Labyrinth der Spiegel
die Stadt spaziert. Er ist mir überhaupt nur wegen seines Gangs aufgefallen, die Schritte waren irgendwie abgehackt. Du hast sofort kapiert, dass er nur ein Billigmodem hat.«
»Glaub ich nicht!«, erklärt der Brillenträger kopfschüttelnd. »Mit so ’ner alten Kiste schaffst du es nicht in den virtuellen Raum!«
»Warum nicht? Wenn er ein FPU hat, klappt das ohne weiteres!«, widerspricht jemand.
Ein endloser Streit darüber, ob man auf einem IBM 386 in den virtuellen Raum gelangen kann oder nicht und wie weit eine Gleitkommaeinheit da etwas ausrichtet, bricht los. Ich mische mich nicht ein, sondern höre nur zu, obwohl ich die Antwort kenne.
Man kann es.
Ich habe auch auf einem 386er angefangen. Ebenfalls ohne VR-Helm und Sensoranzug, genau wie dieser Soldat, der sich klammheimlich nach Deeptown begeben hat.
Aber dieses Wissen behältst du besser für dich.
Während wir reden, gelangen wir zum BFG9000 . Es ist ein tristes Gebäude, gehalten im Stil des Labyrinths, genauer gesagt in dem seines Vorläufers, Doom. Vor der schweren Eisentür stehen zwei Monster in Livree. Ich zucke automatisch mit der Schulter, um das Gewehr anzulegen, das ich aber gar nicht mehr trage. Das Komischste ist, dass ein paar andere genau den gleichen Reflex zeigen.
Die Spiele im Labyrinth gehen an niemandem spurlos vorüber.
Wir schieben die Türsteher in Monsterform beiseite und fallen ins Restaurant ein. Das Interieur ist mir bis in die kleinste Einzelheit hinein vertraut: Das ist das letzte Level von Doom 2. Die eine Hälfte des riesiges Saals ist von einer funkelnden grünen Flüssigkeit überflutet, die
andere nimmt eine Steinterrasse ein, auf der kleine Tische stehen. Über der grünen Flüssigkeit prangt an der Wand die Fratze eines grauenvollen Dämons, aus dessen Stirn in regelmäßigen Abständen sich drehende Würfel herauspurzeln, die auf der Terrasse zerplatzen. Aus jedem von ihnen schlüpft ein kleines Monster, das kurz zwischen den Tischen herumwuselt, bevor es sich in Luft auflöst. Niemand achtet auf die Biester, denn im Unterschied zu den Monstern im Spiel sind sie völlig harmlos.
»Wie einfach die Levels doch früher waren!«, bemerkt einer aus unserer Gruppe. Ich schweige. Den würde ich gern mal in diesem Level erleben, selbst wenn es als bloßes 3D-Spiel gestaltet ist, ohne virtuelle Effekte. Ich wäre gespannt auf die Heldentaten der jungen Generation. Denn sogar früher ist es nur vereinzelten Spielern gelungen, das letzte Level ehrlich zu absolvieren, ohne den Unsterblichkeitscode einzusetzen.
Wir nehmen in unmittelbarer Nähe der grünen Flüssigkeit Platz, an mehreren Tischen, die wir zusammenschieben. Der Kellner ist ebenfalls ein Monster, eine fliegende purpurrote Kugel mit Glubschaugen.
»Bier!«, bestellt der Brillenträger. »Die Hausmarke! Für alle! Auf meine Rechnung!«
Kaum öffnet das Monster den Mund, ducke ich mich weg. Doch aus dem Maul fliegen keine feuerspeienden Schädel wie im Spiel, sondern beschlagene Bierkrüge.
Zwei Idioten lachen über mich, alle anderen wechseln verständnisvolle Blicke.
Wodurch unterscheidet sich ein Doomer von einem normalen Menschen? Eben dadurch, dass ein Doomer nie
um die Ecke biegt, ohne sich überzeugt zu haben, dass die Luft rein ist.
Deshalb erkennen Doomer einander auf Anhieb. Deshalb erstaunt meine Reaktion die alten Spieler nicht.
Wir stoßen an.
»Auf den Waffenstillstand!«, bringt der Brillenträger einen Toast aus. »Zwischen dem Revolvermann und uns!«
Das Bier ist dickflüssig und dunkel, kein Guinness, aber etwas in der Art. Und es ist sehr stark.
Wie die Besitzer des Restaurants es wohl fertiggebracht haben, ein inexistentes Bier herzustellen, das als starkes durchgeht?
»Ich bin Damir«, stellt sich der Brillenträger vor.
»Revolvermann.«
Damir nickt, womit er akzeptiert, dass ich meinen Namen nicht nenne. Ich kann nicht sagen, warum, aber ich habe den Eindruck, dass er in der Realität das genaue Gegenteil seines Avatars ist, nämlich groß und muskulös.
Jedenfalls entspräche das dem typischen Vorgehen. Ich hab mal ein paar psychologische Studien zur Tiefe gelesen, in denen hieß es, in zwei von drei Fällen werde die virtuelle Figur als Gegenstück zum realen Körper entworfen.
»Warum bist du früher noch nie im Labyrinth gewesen?« , erkundigt sich Damir.
»Es hat mich nicht interessiert«, gebe ich zu.
Damir nimmt meine Antwort ohne jede Empörung zur Kenntnis – im Unterschied zu den jüngeren
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