Labyrinth der Spiegel
Männer habt Ideen!« Vika erhebt sich endlich. Sie trägt ein weißes, knielanges Leinenkleid und Sandalen, um ihren Hals baumelt ein Kettchen mit einem Silberanhänger. »Ist das ein Kompliment bei der ersten Begegnung?«
»Bei der zweiten«, versuche ich zu scherzen.
»Nein, bei der ersten. Gestern Abend – das war Arbeit.«
»Dann werde ich jetzt mit den Komplimenten anfangen«, entgegne ich. »Du bist intelligent, schön, talentiert …«
»Und pünktlich, vergiss das nicht.« Vika verbannt ihr Haar mit einem weißen Band aus der Stirn.
»Nein, lieber füge ich noch hinzu: großzügig. Sonst würdest du diese Bilder nicht verkaufen.«
»Quatsch«, fegt Vika das Kompliment beiseite. »Ich verkaufe die realen Originale. Die hier behalte ich. Und die sind besser.«
Vika entgeht, dass sie sich verplappert, was mich wiederum freut. »Weshalb besser?«, frage ich rasch.
»Sie geben Töne von sich.«
Also doch. Ich hatte mich nicht verhört, als ich aus den Bildern das Rauschen des Windes und das Plätschern des Wassers vernommen hatte.
»Hier entsteht eine ganz neue Kunst«, bemerke ich.
»Die ist schon vor langer Zeit entstanden. Sie – und noch viel mehr. Nur begreifen wir all das noch nicht als Kunst. Als der Höhlenmensch Hirsche auf die Felswände malte, galt das zu seiner Zeit ja auch nicht als Kunst.«
»So gesehen ist ganz Deeptown ein Kunstwerk.«
»Selbstverständlich. Vielleicht nicht die ganze Stadt, aber Teile von ihr mit Sicherheit. Komm mal her!« Vika packt mich ohne falsche Scham an der Hand und zieht mich zum Fenster. »Sieh mal!«
Das erklärt einiges. Vika hat nach der Natur gemalt – aber existieren in der Realität solche Berge?
Der mittlere Gipfel bestimmt nicht. Er ist mindestens zehn Kilometer hoch und ragt aus der Bergkette heraus wie ein stolzer Rebell. Die Wolken, die um seine Spitze ziehen,
schaffen es nicht, ihn unter ihrer Mütze zu verbergen. Der Berg scheint in Streifen gegliedert, den dunkelgrünen der Wälder, den salatgrünen der Bergwiesen, den Schneering und das graue, tote Granit des Gipfels.
Zwischen unserer hoch gelegenen Hütte und diesem Giganten funkelt ein See. Er ist nicht sonderlich groß, zeigt dafür aber eine perfekte Kreisform. Ihretwegen würde ich ohne zu zögern behaupten, er sei gezeichnet. Dafür ist er jedoch zu lebendig. Das tiefblaue Wasser ist schwer, bildet fast schon Eis.
Ich schweige.
»Glaubst du etwa, das ist das hauseigene Ambiente für wählerische Kunden?«, will Vika wissen.
»Die können auf dergleichen getrost verzichten, nehme ich an.«
Wir sehen auf die Berge.
»Hast du lange gebraucht, um sie zu designen?«, frage ich leise.
»Zwei Jahre«, antwortet Vika leichthin.
Ich nicke. Nicht übel. Schließlich ist das keine landschaftliche Standardschönheit, die jedes Programm in petto hat. Selbst mit einem guten Fernglas würde mir wahrscheinlich nicht auffallen, dass noch was fehlt. Das Bild ist perfekt, in jeder Hinsicht.
»Ich würde da gern runtergehen«, sagt Vika, den Blick auf den See gerichtet.
Mit einem wortlosen Nicken willige ich ein.
»Nur dürfte daraus leider nichts werden«, erklärt sie seufzend. »Wenn wir ein Seil am Fenster festbinden, gelangen wir zwar ohne weiteres zu dem Pfad da unten.
Aber seit einem halben Jahr gibt es am Nordhang ständig Steinschläge. Wahrscheinlich ist der Pfad also verschüttet.«
Ich drehe mich ihr zu und sehe ihr in die Augen.
Nein, sie lügt nicht. Und sie verarscht mich auch nicht.
»Willst du etwa behaupten, dass das alles echt ist?«, frage ich. »Dass man da runtergehen kann? Oder diesen Berg hochsteigen und im See baden kann?«
»Das Wasser ist eiskalt, du würdest dich erkälten.«
»Aber es ist richtiges Wasser? Es schneit hier, gibt Lawinen und stürmt?«
Vika nickt.
»So ein Raum muss über einen eigenen Server laufen!«
»Über zwei. Einen brauchst du schon für die Landschaft, über den anderen läuft der Puff.«
Ich schlucke die kalte Luft runter. »Aber … aber warum arbeitest du dann hier?«, frage ich. »Jede Firma würde dich mit Kusshand als Raumdesignerin nehmen, wenn du sie nur einmal durch dieses Fenster gucken lässt!«
»Dafür habe ich meine Gründe«, erwidert Vika in leicht erhobenem Ton – womit sie mir zu verstehen gibt: Die Frage hätte ich mir sparen können.
Freiheit für alle und in allem.
Ob es ihr einfach gefällt, eine virtuelle Nutte zu sein?
»Danke«, sage ich.
Vika runzelt fragend die Stirn.
»Dafür, dass ich das
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