Lackschaden
eventuell völlig realitätsfern und gar nicht umsetzbar? Haben aber Rudi und Inge nicht genau das gelebt? Die große andauernde, ausdauernde Liebe? Vielleicht sollte ich mal mit meinem Schwiegervater darüber reden. Was hat diese Liebe ausgemacht? Wie hat sie den Alltag ausgehalten? Sind Alltag und Liebe kompatibel? Was braucht es für die große Liebe? Jetzt fällt mir auch wieder ein, wie das Gedicht von Erich Kästner weitergeht. Ich habe es vor Jahren mal auswendig gelernt.
Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wußten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.
Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.
Sie gingen ins kleinste Café am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.
Ich sitze im Hundepipi und heule leise vor mich hin. Über Erich Kästner, das Leben an sich und mich. Wie jämmerlich.
Zwei Stunden später habe ich mich wieder unter Kontrolle und kann kaum fassen, was da eben los war. Diese Stimmungsschwankungen machen mich fertig. Vielleicht brauche ich ein Hormonpflaster. Oder ich sollte wenigstens mal einen sogenannten Hormonstatus machen lassen. Mittags auf dem Boden hocken und einfach so vor sich hinweinen – das kann doch nicht normal sein. Aber – es hat gut getan. Warum auch immer. Jetzt komme ich mir zwar albern vor, aber es ist raus. Weggeheult. Also eigentlich jammern auf allerhöchstem Niveau!
Ich glaube, ich sollte ein Mittagsschläfchen halten. Immerhin ist es mein freier Tag. Die Kinder sind eh nicht heiß auf meine Gesellschaft, und so ein Mittagsschlaf ist etwas, was ich seit einiger Zeit durchaus zu schätzen weiß.
»Mama, Mama, der Opa hat sich gerade gemeldet. Ich soll ihn am Bus abholen, am besten mit Claudia zusammen, er schafft es nicht allein nach Hause!«, weckt mich mein Sohn.
Ich bin verwirrt. Wie hat der sich denn gemeldet? Rudi hat doch gar kein Telefon und was heißt: Er schafft es nicht allein nach Hause? Ich habe innerhalb von Sekunden ein schlechtes Gewissen. Hätte ich ihn mal besser gefahren. Stattdessen liege ich im Bett und mache ein schönes Schläfchen. Hilfsbereitschaft sieht anders aus. Vielleicht geht es Rudi tatsächlich so schlecht, wie er immer behauptet. Bisher habe ich seine Lange-Mach-Ich-Das-Nicht-Mehr-Behauptungen kaum ernst genommen, aber wenn er es nicht mehr allein von der Bushaltestelle bis zu uns schafft, dann spricht das nicht für seinen Gesundheitszustand. Hoffentlich ist ihm nichts passiert.
»Ich komme mit!«, entscheide ich und springe aus dem Bett.
»Mama, du bist ja nackt!«, ruft mein Sohn und man hört ein gewisses Entsetzen in seiner Stimme.
»Ich hab geschlafen, und das hier ist mein Bett. Du musst ja nicht hinschauen!«, verkünde ich und ziehe mich so schnell es geht an.
Meine Nacktheit scheint meinen Sohn schwer zu schockieren. Dabei ist es nicht das erste Mal, dass er mich nackt sieht. Wir sind keine Familie, in der alle ständig nackt rumlaufen, machen aber auch kein großes Bohei um ein bisschen nackte Haut. Jedenfalls Christoph und ich nicht. Meine Kinder habe ich schon lange nicht mehr nackt gesehen, fällt mir bei der Gelegenheit ein. Als ich meinen Sohn mal beiläufig fragte, ob er schon Achselhaar habe, hat er mich so panisch angeschaut, als hätte ich gesagt, dass ich ihn nach Indien zur Kinderarbeit verkaufe. Auf der nach oben offenen Peinlichkeitsskala war das so richtig weit oben. Ob er sich wohl die Achseln rasiert? Während ich überlege, ob ich das gut oder schlecht finden würde, ruft mir mein Sohn aus dem Treppenhaus (in das er sich bei dem schockierenden Anblick seiner nackten Mutter verzogen hat) zu, dass Claudia und er schon gehen.
»Wir holen den Opa. Entspann dich!«
Ich sollte wahrscheinlich Christoph anrufen und ihn informieren. Wenn jetzt noch was mit seinem Vater passiert, weiß ich nicht, ob er das verkraftet.
»Wartet, ich komme besser mit!«, rufe ich Mark hinterher. Aber die beiden sind schon weg. Nur Karl sitzt freundlich schwanzwedelnd im Wohnzimmer. Immerhin – keine Pfütze zu sehen.
Ich bin unruhig. Was, wenn Rudi zusammenbricht? Die Kinder haben doch keine Ahnung von Wiederbelebung und Ähnlichem. Ich natürlich in der Praxis auch nicht, aber
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