Lackschaden
dass es so aussieht, als würde die Zeit anscheinend spurlos an ihnen vorübergehen?
Ich stelle mich nackt vor den Spiegel. Was ich da sehe, treibt mir erneut die Tränen in die Augen. Das ist nicht die Andrea, die ich sein will. Das hier ist eine mittelalte Frau mit einem, wenn überhaupt noch, mittelalten Körper. Dieser Körper, das muss man ihm lassen, passt perfekt zu meiner Gefühlswelt. Irgendwie alles derangiert. Der Lack ist halt ab.
Ich brauche dringend Zuspruch. Irgendetwas Aufmunterndes. Ich rufe Heike an. Dann Sabine. Jedes Mal habe ich die Mailbox dran. Ich hinterlasse keine Nachrichten. Ich möchte eine Stimme hören, mit jemandem reden, der mich mag, mich unterstützt, mich versteht oder wenigstens so tut als ob.
Zu Hause erreiche ich immerhin Rudi, den ich aber mit meinen Sorgen nicht belästigen will. Er hat selbst genug Traurigkeit in sich. Er soll sich nicht noch um mich kümmern müssen. Ich vermisse ihn. Hätte mir jemand vor einem Jahr gesagt, dass ich mal so für ihn fühlen würde – ich hätte nur gelacht. Dass Rudi, mein Schwiegervater mal meine mentale Stütze sein würde, hätte ich wirklich nicht gedacht. Aber manchmal geht es ja gar nicht um Ratschläge, nicht ums Reden, sondern nur ums für einen Dasein. Um Anteilnahme. Um Liebe.
»Wie geht es euch beiden denn so?«, frage ich Rudi. »Versteht ihr euch? Klappt alles?«
Rudi klingt recht gut gelaunt.
»Alles bestens, Herzscher. Hier läuft alles. Ihr müsst euch net sorgen. Die klaa Claudia ist unnerwegs, un es geht ihr gut. Mir auch. Wie is es denn bei euch?«
Ich atme tief ein und lüge los.
»Wunderbar, alles schön. Es geht uns gut!«
»Du klingst gar net so!«, antwortet Rudi, und wieder einmal wird mir klar, was für feine Antennen Rudi hat. Das hätte ich meinem Schwiegervater früher nie zugetraut. Manchmal steckt in Menschen viel mehr, als man auf den ersten, zweiten und sogar dritten Blick sieht.
»Das ist die Verbindung, die ist nicht so gut. Hier ist alles okay. Wetter gut, Essen gut«, sage ich schnell.
Immerhin – das mit dem Wetter und dem Essen ist die Wahrheit.
»Hör mal, Rudi, wo steckt die Claudia denn?«, will ich lieber wissen.
Eleganter Themenwechsel.
»Die macht en Referat mit einer Freundin und übernachtet dann da!«, antwortet er.
Ein Referat! In den Ferien! Mit Übernachtung! Bei irgendeiner angeblichen Freundin ohne Namen. Darüber darf ich überhaupt nicht nachdenken.
»Rudi, es sind Ferien. Was denn für ein Referat? Und was für eine Freundin?«, frage ich dann aber doch mal nach.
»Des hab isch jetzt vergesse, aber des hat alles seine Ordnung, mach disch net verrückt, geniess deinen Urlaub. Ab moin geht die klaane ja arbeite, und dann melde mer uns emal«, versucht er mich zu beruhigen. »Entspannt euch, es läuft.«
Ich bin keineswegs beruhigt, probiere aber nicht auszuflippen, vor allem, weil mein Handlungsspielraum von Mallorca aus doch extrem eingeschränkt ist. Wo um alles in der Welt steckt meine Tochter?
»Gut, Rudi, dann mach dir einen schönen Tag und grüß Claudia!«, antworte ich so gelassen wie eben möglich.
Kaum habe ich aufgelegt, wähle ich die Nummer meiner Tochter. Die kann sich warm anziehen! Nicht mit mir, denke ich. Während das Freizeichen ertönt, überlege ich, welche Sanktionen als Drohung gut wären. Ich weiß nicht, wie andere, ohne Drohgebärden, ihre Kinder erziehen. Allein mit vernünftigen Vorschlägen sind meine Kinder nicht zu überzeugen. Claudia hat ihr Handy aus. Ich schicke eine SMS :
Wo steckst du?
Wenn ein Stein ins Rollen kommt, reißt er viel mit sich. Christoph, Claudia, meinen Körper, mein Gesamtbefinden – alles ist in Bewegung. Abwärts. Wie kann man das stoppen? Meine Güte, ich dramatisiere. Steine, die abwärts rollen – was für ein albernes Bild. Ich muss Initiative zeigen, darf mich nicht so einfach ergeben.
Wie liest man es in Frauenmagazinen noch gleich immer: Das Leben liegt in Ihrer Hand! Ergreifen Sie die Regie!
Also gut! Ich streife mir ein leichtes Sommerkleid über, trinke einen Piccolo aus der Minibar und schnappe ein Handtuch. Ich werde mich amüsieren. Werde gutgelaunt und strahlend sein. Die Frau, die ich in letzter Zeit viel zu häufig war, die muffige, leidende Heulsuse, muss jetzt eine Auszeit nehmen. Wer sich anders präsentiert, wird auch anders wahrgenommen! Auch das ist eine Weisheit aus irgendeinem Heftchen. Es ist zwar eigentlich entsetzlich, dass ich mich für Christoph präsentieren muss, aber
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