Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
während des Essens plötzlich erstarrte, ihm der Löffel aus der zitternden Hand klirrend auf den Teller fiel und ihm die Suppe aus dem Mund übers Kinn lief. Und wohl zum ersten Mal in ihrer Ehe sah Friederike diesen Ausdruck von Hilflosigkeit in seinen Augen. Dann brach er über dem Tisch zusammen. Von da an wurde Hubert nie mehr so, wie er mal war. Er konnte noch nicht einmal mehr sprechen. Das Krankenbett wurde seine Burg. Friederike pflegte ihn tagaus, tagein. Sie wandte sich von diesem Bild ab.
9 Uhr 26 Minuten.
Gleich wurde es Zeit. Aber noch einmal glitten ihre Gedanken zurück. Friederike tat alles für Hubert. Später fütterte sie ihn sogar. Hubert wurde immer hilfloser. Bald holte sich Friederike Hilfe durch Krankenschwestern. Sie eignete sich von ihnen die Handhabung von Rollstuhl, Hebezug, Windeln, Wickeln und Fellen an. Hubert war ja so schwer und somit ständig in der Gefahr sich durchzuliegen. Sie lernte die ganze Pflegetechnologie von A-Z.
Hubert blieb gelähmt und trotz aller guten Pflege, vielleicht auch durch eine gewisse innere Unruhe seinerseits, konnte nicht verhindert werden, dass aus den Druckstellen an seinem Körper mit der Zeit entsetzliche offene Wunden wurden. Es gab keine Hoffnung, nur Pflege. Hubert wurde immer schwächer und, wie Friederike fand, immer unruhiger. Aber dieser Ausdruck der Hilflosigkeit tauchte in seinen Augen zunächst nicht wieder auf. Mochte der Körper immer schwächer werden, so schien sich Huberts verbleibende Energie stärker denn je in den Augen zu konzentrieren. Und in den Fingern.
Freunde, die immer mehr wegblieben, kritisierten schon, dass er sie mit der Klingel tyrannisiere. Aber Friederike empfand das anders. Sie hatte i h n in der Hand. Er m u s s t e klingeln. Und auf absurde Art befriedigte es sie, das Klingeln zu hören.
Während Kojak lief, starb Hubert. Abends saß Friederike immer neben seinem Bett, halb Hubert zugewandt und halb dem Fernseher. Sie wollte nicht soviel Fernsehen. Aber sie wollte Hubert auch nicht so einsam in seinem Zimmer lassen. Vor drei Tagen, kurz nach 23.00 Uhr, kam es. Eine fremde Bewegung im Bett. Friederike sah von ihrer Häkelarbeit auf. Da war er wieder, dieser unglaubliche, für sie so einmalige Ausdruck von Hilflosigkeit in seinen Augen. Diesmal überlebte Hubert ihn nicht. Er bäumte sich auf, fiel zurück ins Kissen und starb.
9 Uhr 32 Minuten.
Jetzt wurde es aber wirklich Zeit. Friederike verließ das Krankenzimmer. Sie hatte alle Bilder eingesammelt, und dieses eine aus dem Krankenzimmer legte sie in der Diele auf die Anrichte zu den anderen einundzwanzig. Sie würde sie bei Gelegenheit verschwinden lassen, um Hubert nie mehr sehen zu müssen. Friederike kam jetzt etwas in Eile. Zum Friedhof würde sie fünf Minuten brauchen. Dann war sie eine Viertelstunde zu früh da, die angemessene Zeit für die trauernde Witwe.
Sie setzte sich den schwarzen Hut auf, richtete ihn vor dem Spiegel. Selbstkritischer Blick. Sah sie trauernd aus? Sie schämte sich jetzt ein bisschen. Ist schon schlimm, wenn nur die Kleider trauern. Aber Friederike sagte sich, dass es niemanden etwas angehe, wie es in ihr aussieht. Schwarz schützt. Auf dem Friedhof würde sie die Kinder treffen. Sie sah sie nicht so oft. Sie hatten ja alle so viel zu tun. Arno musste noch eine Nachtschicht machen. Edith wurde in ihrem Studio benötigt.
Schaffst du es alleine? hatte Arno gefragt. Das schaffe ich jetzt auch noch, hatte Friederike geantwortet. Was hätte sie sonst sagen sollen?
Friederike verließ das Haus und spürte draußen in der hellen Sonne plötzlich so etwas wie Schwindel. Aber er verlor sich wieder bei den nächsten Schritten. Haus an Haus drängte sich gegen die Straße. In ihnen wohnten Menschen, die sie nicht kannte. Erst vor drei Monaten war Friederike mit dem kranken Hubert in diese kleine Stadt gezogen, um den Kindern nahe zu sein. Aber die Kinder arbeiteten viel. Durch einen Vorhang sah sie einen Fernseher laufen.
Das war das erste, was sie getan hatte, als Hubert starb. Den Fernseher aus. Nie wieder werde ich fernsehen können, hatte sie gedacht, weil sie dabei immer seinen Blick auf der Schulter spürte(Hatte er sie wirklich immer von hinten angesehen?).
Als Hubert tot war, hatte sie den Fernseher abgeschaltet, sich vor das Bett gesetzt und Hubert noch einmal voll angesehen. Seine Augen waren jetzt blicklos.
War er wirklich tot? Sie fühlte den Puls, holte einen Spiegel. Er war tot. Als ihr diese Erkenntnis voll ins
Weitere Kostenlose Bücher