Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
Bewusstsein drang, fühlte sie sich wie gelähmt.
Sie spürte, dass sie jetzt nicht aufstehen konnte, um das Zimmer zu verlassen. Als wenn sie Angst hätte, Hubert würde sich das mit dem Sterben noch einmal anders überlegen.
Friederike redete sich ein: Du musst dich losreißen.
Aber dann kam wieder diese andere Stimme, die ihr sagte: Nein, du musst jetzt hier bleiben und aufpassen, dass er nicht...
Ich muss ihm die Augen schließen, sagte sie zu sich. Aber wie schließe ich solche Augen?
Sie hob die rechte Hand, vage, fast entschuldigend, harmlos. Aber eine Handbreit vor seinen Augen schienen sich plötzlich Bleigewichte auf ihren Arm zu senken.
Ich muss ihm die Hände falten, dachte sie plötzlich und riss sich von seinen Augen los. Seine linke Hand lag richtig. Aber sein rechter Arm hing neben dem Bett. Sie beugte sich über ihn, angelte nach seiner rechten Hand in dem Zwischenraum von Bett und Wand und bekam sie zu fassen. Mein Gott, schon so kalt. Da fasste er zu. Sein linker Arm legte sich um ihren Nacken. Er war ja ein so starker Mann, seine rechte Hand tastete und seine Augen strahlten wieder dieses gierige Leuchten aus, das sie so gut kannte und hasste. Aber das konnte doch nicht sein. Er war doch tot. Der Geruch seiner offenen entsetzlich riechenden Wunden und diese Kälte sollten sie überzeugen. Sie taten es nicht.
Zuerst war sie wie zu Eis erstarrt, doch dann trat sie mit den Beinen aus und traf einen Pfosten. Der Himmel des Bettes senkte sich, im Luftzug seufzend, und begrub Friederike und Hubert in ihrer letzten Umarmung. Sie spürte genau, er würde ihr rücksichtslos das Genick brechen. Sein Arm war hart wie eine Stahlklammer. Friederike bekam keine Luft mehr.
Sie fühlte seine andere Hand suchend auf ihrem Körper. Dann durchdrang Arno's laute Stimme den Schleier des lautlosen Kampfes. Und sie spürte, wie er mit hilfreichen geschickten Händen die schweren Filztücher entfernte, das Gestell, die Pfosten. Friederike lag auf Hubert. Sein linker Arm ruhte locker auf ihrer Schulter, sein rechter Arm hing schlaff neben dem Bett. Seine Augen waren geschlossen. Hubert war tot.
Arno fragte: "Hat er es geschafft?"
Friederike nickte nur. Sie richtete sich mühsam auf. Ihre Verdrängungsmechanismen begannen zu arbeiten und versuchten das Unglaubliche auszuschließen.
"Die Hebevorrichtung ist auf dich gefallen", sprach es in ihr, "die Tücher, die Pfosten."
Vielleicht haben die sich so angefühlt, wie Huberts stahlharter Arm. Aber ganz tief in ihr wusste sie es besser. Das war sein Arm an ihrem Hals und das war seine Hand auf ihrem Körper gewesen.
Friederike betrat das Sterbezimmer nicht mehr, bis Hubert eingesargt und der Sarg von den stöhnenden Trägern auf den Friedhof gebracht worden war.
9.45 Uhr
Ein hübscher kleiner Friedhof. Friederike betrat die Trauerhalle. Zwei Nachbarn saßen schon auf den harten Stühlen. Friederikes Blick fiel auf den gewaltigen Sarg. Er passte zu Hubert. Edith und Arno kamen zu ihr. Offenbar hatten sie doch Zeit gefunden. Sie flüsterten ihr etwas zu. Friederike hörte nichts. Sie setzte sich mechanisch. Eine unermesslich lange Zeitspanne später trat der silberhaarige Pfarrer ein, hielt einen würdigen Trauergottesdienst. Von der Predigt verstand Friederike nicht viel.
Was werden S i e jetzt tun? hatte sie der Pfarrer im Vorgespräch zu dieser Beerdigung gefragt. Er hatte ihr die Frage gestellt, über die die junge Frau heute Morgen im Radio auch gestolpert war. Friederike konnte sie ebenso wenig beantworten.
Sie hörte die Worte des Pfarrers hallen: "...der Herr segne deinen Eingang und Ausgang von nun an bis in Ewigkeit."
In der Trauerhalle klangen diese Worte besonders eindringlich, jedenfalls ging Friederike das Wort Ewigkeit nicht mehr aus dem Kopf. Von sechs Trägern wurde der schwere Sarg jetzt anscheinend mühelos aufgehoben. Vielleicht hatten sie stärkere Träger genommen. Sie stellten ihn auf den Karren und schoben ihn langsam zum Grab. Dort wurde der Sarg wieder hochgenommen und auf den zwei Balken über dem tiefen Loch abgesetzt. Auf jeder Seite des Grabes suchten nun zwei Träger nach einem festen Stand. Als sie ihn gefunden hatten, fassten sie nach den dicken Seilen und hoben den Sarg an. Die zwei übrigen Träger zogen die Balken fort. Der Sarg wurde behutsam ins Grab hinabgelassen. Beinahe reibungslos glitten die starken Seile durch die Hände der Träger. Wie oft mochten sie das schon gemacht haben?
Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub
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