Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
undeutliche Flecken und Punkte zogen vorbei. Laura ging auf, dass es sich um Sterne handeln musste. Die Träne bewegte sich rasch. Offenbar hatte sie schon vor einiger Zeit die Erdatmosphäre verlassen, denn der blaue Planet, diese glänzende Scheibe mit den weißen Wolkenstreifen, verschwand gerade unter ihren Füßen. Ein silberner Stern blinkte direkt über ihr, wie ein magisches Zeichen am Gewand eines Druiden. Die Schwärze, die diesen Kosmos erfüllte, ließ ihn unendlich groß erscheinen. Aber bei genauerem Hinsehen und zunehmender Gewöhnung an die Dunkelheit, begann Laura, die Lichtpunkte und Lichtflecken zu unterscheiden.
Sie erkannte ganze Haufen von Lichtansammlungen, ferne fremde Welten. Mit einem unbekannten Motiv schien sich die Träne eine dieser Welten auszusuchen und sie gezielt anzusteuern. Über Laura stieg eine riesige goldene Scheibe empor, wuchs und überstieg ihren Gesichtshorizont, so dass es ihr schien, als fiele sie in ein Meer gelbrot kochenden Metalls. Die Träne näherte sich dem Stern immer weiter. Laura begann Bergmassive zu unterscheiden, und waren das Wälder und Wüsten? Ganz sacht umrundete die Träne den goldenen Stern und näherte sich seiner unbeleuchteten Seite. Aus vager, nebelhafter Undurchdringlichkeit stieg Laura eine Stadt entgegen, sehr groß, sehr alt und arg im Verfall begriffen. Ein einziges Fenster in einem einzigen Haus war beleuchtet, und dieses Licht schien der Träne als Wegweiser zu dienen.
Die Träne trug Laura genau vor dieses hohe Fenster. Das Licht fiel durch Vorhänge, die nicht ganz geschlossen waren. Die Träne glitt geräuschlos durch die Fensteröffnung. Laura erkannte, dass das dahinterliegende Zimmer vom Licht einer einzigen Kerze erhellt wurde, deren Licht die hohe Decke kaum erreichte. Lauras Blick ertastete, während die Träne auf der Fensterbank ruhte, einen alten Schrank, einen schweren Teppich und ein breites, geräumiges, einladendes Bett. Zwei Menschen schliefen in diesem Bett, dicht beieinander. Eine blonde junge Frau und ein dunkelhaariger, sehr langhaariger Mann. Der Mann erwachte, beugte sich über die Frau, die ihm den Rücken zuwandte. Sie schien sich noch stärker in ihre Decken zu wickeln. Der Mann stand auf und seine Bewegungen erschienen Laura irgendwie zeitverzögert. Er verließ den Raum durch eine breite, doppelflügelige Tür. In dem Augenblick, als die Tür sich schloss, glitt die Träne von der Fensterbank auf das Bett zu. Die fremde Frau richtete sich auf und sah der Träne ohne Schrecken oder gar Erstaunen entgegen. Sie lächelte Laura freundlich an und machte eine einladende Bewegung. Laura nahm die atemberaubende Schönheit der Frau wahr, ihre Güte und dass sie als einzigen Schmuck eine kleine schwarze Träne auf der Stirn trug. Laura wurde von einem solch starken anziehenden Gefühl ergriffen, dass sie wie wahnsinnig versuchte, die Wand ihrer Träne zu durchbrechen. Voller Mitleid sah die Frau Laura zu, wie sie kämpfte, bis sie entkräftet am Boden der Träne zusammensank.
In diesem Moment setzte sich die Träne wieder in Bewegung, glitt zurück durch das Fenster und stieg unverzüglich wieder in den dunklen Kosmos empor, dem blauen Planeten entgegen. Der goldene Stern verlor sich wieder in der Vielzahl der fernen Welten. Zwar lag Laura verzweifelt am Boden der Träne, aber sie hegte keinen Zweifel daran, dass ihr seltsames Gefährt sie wieder nach Hause zurückbringen würde. Und so geschah es auch. Als die Träne auf der Erde schließlich zur Ruhe kam, lösten sich ihre vorher so undurchdringlichen Wände buchstäblich in Nichts auf. Der warme sonnige Maitag drang auf Laura ein, blendete sie. Vor ihr lag schwarz glänzend und unschuldig die kleine Träne auf der ersten Stufe ihres Hauses.
Laura stieg mit weitem Schritt über sie hinweg, um ihr Haus zu betreten. Nie wieder würde sie dieses schwarze Gebilde in die Hand nehmen, nie wieder. Sie ließ sich aufseufzend in ihren Arbeitssessel fallen, erschöpft, aufgeregt, und erfüllt von dem sicheren Gefühl, dass noch etwas geschehen würde.
Über ihren Schreibtisch hinweg sah Laura zum Fenster hinaus und ihr Blick fiel auf den großen Blutahorn vor der Wiese. Seine dunklen Blätter mit den scharfen Spitzen waren schon voll erwachsen. Ein Blatt erregte ihre besondere Aufmerksamkeit. Denn es bewegte sich als einziges an dem ganzen Baum. Plötzlich schien es seine Form zu verlieren, drehte sich quälend langsam zusammen, dunkelte noch stärker. Schwarze Tropfen
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