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Lacunars Fluch, Teil 1: Der Auftrag (German Edition)

Lacunars Fluch, Teil 1: Der Auftrag (German Edition)

Titel: Lacunars Fluch, Teil 1: Der Auftrag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Ahrens
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Sobald er die Tür zufallen hörte, entfernte er hastig das Stadtsiegel. Doch als er das Pergament entrollte, erbleichte er. Auf dem Schreiben blickte ihm Alathaia entgegen, die Zweifache und doch Eine, die uralte, fast vergessene Erdgöttin, deren Bildnis nur einer im Lande zu verwenden wagte: Anamarna, der Eremit von Kurdur. Alathaias Bildnis war so heilig, weil es den Urzustand der Welt symbolisierte, die Eintracht aller Lebewesen, aber diese war verlorengegangen, als die Eine sich gespalten hatte. Auf dem Pergament jedoch zeigte sie sich in ihrer alten Größe. Eine Vision? Eine Prophezeiung? Oder eine Blasphemie?
    Der Text war kurz. Anamarna bat ihn um einen Besuch in den nächsten Tagen. Einen Grund dafür nannte er nicht. Jaryn klopfte das Herz heftig gegen die Rippen. Was mochte den im ganzen Land verehrten Eremiten bewogen haben, ihn zu sich zu rufen? Was konnte er von ihm wollen? War er nicht einer der Geringsten unter den Erleuchteten? Jaryn huschte ein selbstgefälliges Lächeln über die Lippen. Er war der Jüngste, aber nicht der Geringste. Er wusste es. Er war etwas Besonderes.
    Bis zu seinem zwölften Lebensjahr war er in sehr bescheidenen Verhältnissen bei seinem Großvater aufgewachsen. Nach dessen Tod hatten ihn Priester in die verbotene Stadt gebracht. Das allein war bemerkenswert gewesen, denn einfache Leute aus dem Volk durften sie nur mit einer Sondererlaubnis betreten. Die Priester eröffneten ihm, er werde im weißen Tempel zum Sonnenpriester ausgebildet. Das habe Achay in seiner göttlichen Weisheit so beschlossen.
    Wer Achay war, hatte Jaryn damals nicht gewusst. Zehn Jahre hatte er als Novize gedient. Seitdem war Jahr für Jahr in dem einst bescheidenen Knaben die Überheblichkeit auf die eigene Bedeutung gewachsen. Bereits mit zweiundzwanzig durfte er die großen Bekenntnisse ablegen und erhielt die erforderlichen Weihen. Er hatte sich gefühlt wie ein Gefäß, das von göttlichem Odem angefüllt worden war wie eine Schatzkiste mit schimmernden Perlen. Heilig war er, unberührbar, kalt wie der Eismond und leer im Innern wie die Schale eines Bettlers. Jaryn wäre allerdings erstaunt gewesen, solches über sich zu hören.
    Gedankenverloren rollte er das Pergament wieder zusammen. Weshalb befielen ihn unwürdige Zweifel? Der große Anamarna rief ihn zu sich. War das nicht ein weiteres Zeichen seiner Vortrefflichkeit? Mit sich selbst zufrieden, erhob er sich, tat zwei tiefe Atemzüge, strich mit einem abwesenden Lächeln über sein seidenes Gewand, als berühre er seine Haut, und in seine kristallblauen Augen trat ein sieghaftes Funkeln. Wäre Achay selbst in diesem Augenblick durch die Tür getreten und hätte ihm die Hand gereicht, Jaryn hätte sie wie selbstverständlich ergriffen. Gefährte eines Gottes zu sein – wer, wenn nicht er, wäre dessen würdig?
    Der Weg nach Drienmor war weit und gefährlich. Besonders die Rabenhügel waren von dichten Wäldern bedeckt und von finsteren Schluchten durchzogen. Nur wenige Pfade führten hindurch, die zwar gangbar, aber unsicher waren wegen der Gesetzlosen, die sich hier verbargen. Niemand, der bei klarem Verstand war, durchquerte die Hügel ohne bewaffnete Eskorte. Aber Jaryn war ein Unberührbarer. Niemand würde es wagen, Hand an einen Sonnenpriester zu legen. Zudem trug er Anamarnas Pergament bei sich, des Allweisen, der bei einer Höhle an der heiligen Kurdurquelle hauste, deren Wasser jedem, der reinen Herzens war, hundert Jahre Leben schenkte, wenn er aus ihr trank. Zwar kannte Jaryn außer Sagischvar, der behauptete, einhundertfünfzig Sommer zu zählen, niemanden, der so alt geworden war, was für ihn aber lediglich bewies, wie verworfen die Menschen waren. Er selbst würde Anamarna um Erlaubnis bitten, daraus trinken zu dürfen, schließlich war er über jede Verdunkelung seiner Seele erhaben.
    Für den Weg, überlegte Jaryn, würde er zwei oder drei Tage benötigen. Über Gefahren, die am Weg lauern mochten, machte er sich keine Sorgen. Ein Achayane wandelte unter dem Schutz des Gottes wie unter einer unsichtbaren Hülle, die ihn umgab, wohin auch immer er seinen Fuß setzte. Davon war Jaryn überzeugt, obwohl er seit seiner Ankunft im Tempel noch keinen Schritt aus der verbotenen Stadt hinausgetan hatte.
    Die Nächte waren mild im Hitzemond. Er packte eine dünne Decke ein, ein Paar Sandalen und ein Gewand zum Wechseln; dazu Proviant für einige Tage und einen Wasserschlauch. Für einen Leuchtenden gab es überall im Land Menschen,

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