Lady Chesterfields Versuchung
die Decke gekrallt. Augenblicklich war er von den Hofärzten umringt gewesen, sodass sie ihr Gespräch nicht hatten fortsetzen können.
Es machte Michael zu schaffen, dass er den alten Mann so sehr in Aufregung versetzt hatte. Doch er konnte es nicht ändern. Nun verstand er auch, warum es der Graf so eilig gehabt hatte, nach Lohenberg zu gelangen. Fürst Georg würde vermutlich nicht mehr lange leben.
Ein Klopfen an der Tür riss Michael aus seinen Gedanken. Begleitet von zwei Dienern, war Graf von Reischor gekommen, um ihn abzuholen. Er saß immer noch im Rollstuhl.
„Sie sollten im Bett bleiben, bis Sie genesen sind.“ Michael schüttelte missbilligend den Kopf.
„Unsinn. Es ist nur ein Dinner, und ich kann die ganze Zeit sitzen. Ein Mann muss schließlich etwas essen.“
Und andere Menschen manipulieren, setzte Michael in Gedanken hinzu. Als er an von Reischors Seite den Korridor entlangging, konnte er sich einer unguten Vorahnung nicht erwehren. Seinem Gefühl nach stand das Dinner unter einem schlechten Stern.
Kurz bevor die Gäste ihre Plätze einnahmen, erreichten sie den Speisesaal. Obwohl der Graf ihn davon zu überzeugen versuchte, sich an den anderen vorbei nach vorne zu begeben, stellte Michael sich ans Ende der Schlange. Er beobachtete die anderen Gäste und nickte Viscount Brentford und seiner Tochter, die ihn mit unverhohlener Neugierde musterten, freundlich zu.
Vergebens hielt er nach Hannah Ausschau. Er war im Begriff, den Speisesaal zu betreten, als plötzlich ein Raunen durch die Menge ging.
Die Gäste traten beiseite, um Fürstin Anna Platz zu machen, die, in eine champagnerfarbene Seidenrobe mit Gold- und Silberstickerei gekleidet und von zwei Hofdamen gefolgt, Einzug hielt. Lächelnd kam die Fürstin auf Michael zu.
Sämtliche Umstehenden verneigten sich, und Michael tat es ihnen etwas unbeholfen nach.
„Werden Sie mir Gesellschaft leisten, Prinz Michael?“
Überrascht sahen ihn die anderen Gäste an. Michael bejahte die Frage, aber er wusste nicht, ob er der Fürstin den Arm bieten sollte oder nicht. Der Graf nickte ihm unauffällig zu und bedeutete ihm, hinter ihr herzugehen.
Als Michael im fürstlichen Gefolge den Speisesaal betrat, hoffte er abermals, Hannah unter den Gästen zu entdecken, doch sobald er neben seiner Mutter am Kopf der Tafel platziert wurde, verlangte es der gute Ton, dass er seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit der Fürstin widmete.
Während des opulenten siebengängigen Dinners wirkte die Herrscherin glücklich und ausgeglichen. Sie stellte Michael unzählige Fragen, die dieser nach bestem Wissen und Gewissen zu beantworten versuchte.
„Ging es dem Fürst nach meinem Besuch wieder besser?“, erkundigte er sich schließlich.
„Das weiß ich nicht“, entgegnete Anna betrübt. „Mehr als zwanzig Jahre wurde mir nicht gestattet, meine Gemächer im Turm zu verlassen. Heute ist der erste Abend, an dem ich mich wieder frei bewegen kann.“ Sie wandte sich zu Graf von Reischor. „Dafür muss ich Ihnen von ganzem Herzen danken, Exzellenz.“ Beinahe liebevoll sah sie den Grafen an, der daraufhin leicht errötete.
„Der Fürst hat dich als den wahren Thronerben anerkannt“, setzte die Fürstin an Michael gewandt hinzu. „Und ich bin unsagbar glücklich, dass ich dich endlich wiederhabe.“
Das Dinner nahm seinen Fortgang, und die ganze Zeit hielt Michael Ausschau nach Hannah. Doch als die Stunden verstrichen und sie nicht kam, begann er, sich ernsthafte Sorgen zu machen. Er wusste, dass es ungehörig war, sich unaufgefordert zu erheben, wenn man neben einem Mitglied des Fürstenhauses saß, doch er sah keine andere Möglichkeit.
Nachdem der letzte Gang abgeräumt worden war, stand er auf und entschuldigte sich. Die Fürstin wirkte enttäuscht, bedeutete ihm jedoch mit einer Geste der Hand, dass er entlassen war.
Fassungslos sahen die Gäste des Banketts ihm hinterher, als er zur Tür ging, doch Michael kümmerte sich nicht darum. Er musste Hannah sehen und herausfinden, was vor sich ging.
Als er bei ihrem Schlafgemach ankam, stieß er die Tür auf, ohne anzuklopfen. Der Raum war leer, weder Koffer noch andere Habseligkeiten standen herum. Auch das Bett war gemacht, und nichts deutete darauf hin, dass Hannah sich überhaupt je in diesem Zimmer aufgehalten hatte.
Irgendetwas stimmte nicht.
Michael verließ das Zimmer. Als er im Korridor eine Bedienstete sah, hielt er sie auf. „Haben Sie Lady Hannah abreisen sehen?“, fragte er sie auf
Weitere Kostenlose Bücher