Lady Chesterfields Versuchung
Kleidung ausgeben sollte. Wenn möglich, wollte Michael keinen Penny davon anrühren.
Hinter ihm begannen Passagiere, die eben erst an Bord gekommen waren, zu streiten. Michael hatte darauf bestanden, Mrs Turner mitzunehmen, und nun reiste seine Nachbarin unter der Obhut der Diener des Grafen mit. Vermutlich wäre sie ohne seine Hilfe innerhalb einer Woche völlig verloren gewesen.
Zwar hatte von Reischor Einwände gegen die Mitnahme der alten Frau vorgebracht, doch Michael war durch nichts von seinem Entschluss abzubringen gewesen.
Amüsiert lauschte er Mrs Turners aufgeregtem Geschnatter, dem er entnahm, dass sie sich auf dem Schiff umsah. Heute schien einer ihrer besseren Tage zu sein. Sie blickte interessiert zu den Masten und Schornsteinen empor, schirmte die Augen mit der Hand vor der Sonne ab und lächelte glücklich.
Schuldbewusst dachte Michael daran, dass er ihr nichts über das wahre Reiseziel erzählt hatte. Aber er wollte sie nicht unnötig beunruhigen. Mrs Turner glaubte, dass sie nach Deutschland reisten.
Die anderen Passagiere, die an Bord kamen, gaben vor, die ältere Dame nicht zu bemerken. Michael sah ihnen ihre gesellschaftliche Stellung an, ohne ihre Namen zu kennen. Da gab es Dukes und Viscounts und Damen und Herren jeder anderen Sorte Adel. Alle hielten sich für zu bedeutend, um mit gewöhnlichen Menschen Umgang zu pflegen.
Michael behielt Mrs Turner im Auge, um sicherzugehen, dass niemand ihr zu nahe trat. Hin und wieder warf ihm einer der Gentlemen einen neugierigen Blick zu, als wüsste er nicht genau, ob er ihn kannte.
Michael ignorierte die Blicke. Er war keiner von ihnen – das wusste er spätestens, seit er Whitmores Einladung angenommen hatte.
Es gab keinen Grund, mit den Mitgliedern der gehobenen Gesellschaft Konversation zu machen. Was sollte er auch sagen? Haben Sie in der letzten Zeit auch irgendjemanden erschossen? Nein, es war besser, wenn er sich von diesen Leuten fernhielt.
Doch dann drang das Lachen einer jungen Frau an sein Ohr. Die klare, wohlklingende Stimme hätte er überall wiedererkannt.
Lady Hannah, die Tochter des Marquess of Rothburne. Was in aller Welt tat sie an Bord der Orpheus ? War sie ihm gefolgt? Michael drehte sich zu ihr um. Als ihre Blicke sich trafen, errötete sie und nickte knapp.
Sie schien nicht überrascht, ihn hier zu sehen. Weshalb hatte sie bei ihrer letzten Begegnung nicht erwähnt, dass sie auf demselben Schiff reisen würden?
Sie trug eine fellgefütterte silbergraue Kaschmirpelisse, und Michael erhaschte einen flüchtigen Blick auf das dunkelblaue Kleid darunter. Spitzenbesatz, Bänder und cremefarbene Rosen zierten ihre graue Schute und vervollständigten den Eindruck vollkommener Eleganz, die ihre vornehme Haltung nur unterstrich.
Die vielen Koffer und Taschen, die die Diener an Bord brachten, ließen darauf schließen, dass sie für längere Zeit zu verreisen beabsichtigte. Dann trat ihr Bruder Quentin zu ihr, sprach leise auf sie ein und schloss sie in die Arme. Es war eindeutig ein Abschied.
Was ging hier vor? Nicht einen Augenblick glaubte Michael, dass es sich bei Lady Hannahs Anwesenheit auf dem Schiff um einen Zufall handelte, zumal die Orpheus eines der luxuriösesten Passagierdampfschiffe war, die es derzeit gab.
Seine Fragen wurden beantwortet, als der Graf kurz darauf zusammen mit Lady Hannah zu ihm trat.
„Lieutenant Thorpe, unsere Reisegesellschaft vergrößert sich um eine Person“, informierte er ihn. „Der Marquess of Rothburne bat mich, seine Tochter Lady Hannah zu ihren Verwandten nach Deutschland zu eskortieren, nachdem er erfuhr, dass ich in meine Heimat zurückreise.“
Von Reischor hatte auch dieses Zusammentreffen arrangiert, um ihn manipulieren zu können, da war Michael sicher. Der Graf wusste offenbar, dass er Lady Hannah um jeden Preis schützen würde.
„Lady Hannah.“ Michael ließ sich nichts von seinen Gefühlen anmerken. Er wollte auf keinen Fall, dass sie zwischen ihm und von Reischor zwischen die Fronten geriet.
Lady Hannah ließ sich genauso wenig anmerken. „Lieutenant Thorpe.“ Eine Mauer aus Eis schien sich zwischen ihnen zu erheben. Wäre Michael nicht dabei gewesen, er hätte ernsthaft bezweifelt, dass sie sich noch vor Kurzem leidenschaftlich geküsst hatten. Die sittsame, reservierte junge Dame, die ihm gegenüberstand, ließ keine Spur von der Frau erahnen, die ihren zudringlichen Verehrer mit einem Kerzenleuchter niedergestreckt hatte.
Graf von Reischor räusperte
Weitere Kostenlose Bücher