Lady Chesterfields Versuchung
schon quälte sie sich mit Selbstvorwürfen. Der Kuss war ein Akt des Aufbegehrens gewesen, und sie war viel zu weit gegangen, aber der Lieutenant hatte sie schließlich vorher gewarnt. Sie konnte niemandem außer sich selbst die Schuld dafür geben.
Noch jetzt erregte sie der Gedanke an den Kuss – und beschämte sie gleichermaßen. Sie kam sich ebenso verwerflich vor wie die Ehebrecherin in dem Roman, den sie kürzlich gelesen hatte. Nur dass sie keinen scharlachroten Buchstaben auf ihrer Kleidung tragen musste, der von ihrer Schmach kündete.
„Lord Belgrave hat seinen Antrag zurückgezogen“, sagte ihr Vater in ihre Gedanken hinein. „Ich nehme an, dass dich das nicht überrascht.“
„Nein“, brachte sie zerknirscht hervor. Welcher Mann fand schon Gefallen daran, verprügelt zu werden? Und dann auch noch zwei Mal!
„Deine Mutter möchte dir etwas sagen.“ Der Marquess lehnte sich zurück und nickte Lady Rothburne zu.
Ihre Mutter war blass und knetete unruhig ihr Spitzentaschentuch zwischen den Fingern. „Es war nicht im Sinne deines Vaters, Lord Belgrave ein Gespräch mit dir unter vier Augen zu gestatten.“
Dem finsteren Gesichtsausdruck des Marquess nach zu urteilen, traf das zu. Ein schwacher Hoffnungsschimmer flackerte in Hannah auf.
„Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass der Baron sich mit dir einschließt!“, gestand ihre Mutter gequält und brach in Tränen aus. „Hannah, es tut mir so leid. Ich war so naiv, anzunehmen, dass er sich wie ein Gentleman verhält. Du hattest völlig recht mit deiner Meinung über ihn.“
„Dann seid ihr nicht böse, dass ich Lord Belgrave den Kerzenleuchter übergezogen habe? Und …“ Fieberhaft dachte sie nach. „Und das Lexikon?“ Fragend sah sie ihren Vater an, der sich unbehaglich räusperte.
„Es hätte sicher auch andere Möglichkeiten gegeben, die Angelegenheit zu klären, aber ich mache dir keinen Vorwurf, Hannah. Eine Frage muss ich dir allerdings stellen – wie um alles in der Welt bist du aus dem Arbeitszimmer gelangt? Wir brauchten nahezu eine halbe Stunde, um den Ersatzschlüssel zu finden. Fast hätte ich Phillips angewiesen, die Tür einfach aufzubrechen.“
„Belgrave kam zu sich. Mir blieb keine andere Wahl, als aus dem Fenster zu klettern.“ Am besten, sie blieb so dicht bei der Wahrheit wie möglich.
„Du hättest dir alle Knochen brechen können!“, protestierte ihre Mutter entsetzt. „Ich fasse es nicht, dass du ein solches Risiko eingegangen bist!“
Hannah seufzte. „Verglichen mit dem Verlust meiner Tugend schien mir ein Knochenbruch das kleinere Übel.“
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. „Warum hast du nicht um Hilfe gerufen?“
„Und dann?“ Hannah zuckte die Schultern. „Ihr wolltet mir ja nicht glauben, als ich euch sagte, was für ein Schurke er ist.“
Ihre Mutter wurde wenn möglich noch blasser und senkte den Blick auf ihr Taschentuch.
„Wir brauchen nicht weiter über Belgrave zu reden.“ Der Marquess musterte seine Tochter ernst. „Die Sache ist erledigt.“
Gott sei Dank. Hannah atmete auf. Allerdings sahen ihre Eltern keineswegs erleichtert aus, sondern so besorgt, dass sie sich zu fragen begann, was sie ihr wohl als Nächstes sagen wollten.
Ihr Vater erhob sich und beantwortete ihre unausgesprochene Frage. „Ich habe beschlossen, dich für eine Weile fortzuschicken. Zweifellos wird Belgrave Gerüchte verbreiten, wann immer ihm das möglich ist. Deine Mutter und ich werden uns seinen Verleumdungen stellen und versuchen, sie zu entkräften. In der Zwischenzeit reist du nach Deutschland, wo du bei deinem Cousin Dietrich von Kreimeln und seiner Gattin Ingeborg bleiben wirst.“
Zwar hatte Hannah gehofft, London verlassen zu können, doch sie war den beiden Verwandten noch nie begegnet, und Deutschland schien ihr unendlich weit fort.
„Wann muss ich abreisen?“
„In drei Tagen.“
So bald schon? Hannah schenkte den Ausführungen ihres Vaters kaum noch Beachtung, bis er sich räusperte und sagte: „Ich habe deinem Cousin gestern einen Brief geschrieben und erklärt, was vorgefallen ist. Er und Ingeborg werden dich mit offenen Armen empfangen.“
„Wie lange muss ich bleiben?“
Ihr Vater antwortete nicht sofort, und Hannah vermutete, dass er es selbst nicht genau wusste. Bei der Aussicht, vielleicht für viele Jahre von ihrer Familie getrennt zu sein, ergriff sie tiefe Traurigkeit.
„Bis das Gerede sich gelegt hat“, erwiderte ihr Vater endlich. „Oder bist du einen
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