Lady Chesterfields Versuchung
ihr unterwegs war. Es mochte weniger komfortabel sein, doch die Gefahr aufzufallen war ungleich größer, wenn er im prunkvollen Gefolge des Grafen reiste.
Der kalte Morgennebel schien zwischen den Baumstämmen zu schweben wie eine verzauberte Wolke. Michael indes hatte keinen Blick für die Schönheit der Landschaft, sondern sah starr geradeaus, während er neben ihr herritt. Er trug eine graue Hose, ein weißes Hemd mit Weste und einen schlichten dunklen Reitrock, sie selber hatte sich ein blaues langärmeliges Reitkleid von Estelle ausgeliehen. Die gedämpften Farben waren unauffällig und würden kein Aufsehen erregen.
Sie folgten der Straße nach Lohenberg, und als sie die Grenze überquert hatten, bemerkte Hannah, dass Michael sich immer wieder unbehaglich umsah. Ihm schien bei ihrem riskanten Unternehmen ebenso wenig wohl wie ihr.
„Folgt uns jemand?“
Er schüttelte den Kopf. „Bis jetzt nicht.“
Die Straße führte in eine kleine Ortschaft. Die malerische Ansammlung von Fachwerkhäusern war von großen Feldern umgeben, die darauf zu warten schienen, bestellt zu werden. Michael ritt in das Dorf und überraschte Hannah, als er vor dem Wirtshaus sein Pferd zügelte und sich aus dem Sattel schwang. „Hier frühstücken wir.“
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie eine Rast einlegen würden. In nur wenigen Stunden hätten sie die Residenzstadt erreicht, in der sich auch das fürstliche Schloss befand.
Michael half ihr vom Pferd, sah aber keineswegs besonders hungrig aus. „Sind Sie sicher, dass Sie eine Pause machen wollen?“ Hannah musterte ihn prüfend. „Meinetwegen müssen Sie das nicht tun. Ich kann warten, bis wir am Ziel sind.“
„Wir stellen Nachforschungen an“, erwiderte Michael und nahm ihre Hand. „Wir waren beide noch nie in der Residenzstadt und sollten wissen, was auf uns zukommt.“
„Den Feind ausspähen?“
„Ganz genau.“ Er band die Pferde an einem Geländer fest und gab einem jungen Burschen, der in der Nähe herumlungerte, ein paar Münzen, damit er die Tiere versorgte.
„Das ist Geld aus Lohenberg“, stellte Hannah erstaunt fest. „Wo haben Sie es her?“
„Graf von Reischor hat mir eine wohlgefüllte Börse zur Verfügung gestellt, aber ich bezweifle, dass er dabei eine solche Verwendungsweise im Sinn hatte.“
„Da er es nicht weiß, macht es ihm sicher auch nichts aus.“ Hannah hakte sich bei Michael unter.
Er lächelte ihr zu. „Sind Sie bereit?“
Sie nickte, und gemeinsam betraten sie den Schankraum. An den meisten der massiven Holztische mit den sauberen Tischdecken saßen Leute. Nur noch wenige Plätze waren frei.
„Guten Morgen“, begrüßte sie die Wirtin, eine schmalgesichtige ältere Frau, die eine weiße Schürze über ihrem schwarzen Kleid trug. Nachdem Hannah ihr erklärt hatte, dass sie zu speisen wünschten, nickte die Frau: „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, mit anderen Gästen zusammenzusitzen, können Sie dort drüben Platz nehmen.“ Sie wies auf einen Tisch am Fenster.
„Sehr gern“, erwiderte Hannah in fast akzentfreiem Deutsch. „Mein Mann und ich sind früh aufgebrochen.“
Michaels irritiertem Gesichtsausdruck nach zu schließen, hatte er nicht ein Wort der Unterhaltung verstanden. Er hielt Hannahs Hand fest umschlossen, als die ältere Frau sie an den Fenstertisch führte.
Nachdem sie Frühstück bestellt hatte, beugte Hannah sich zu ihm vor. „Verstehen Sie gar kein Lohenisch mehr?“, fragte sie flüsternd.
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Obwohl es sich merkwürdig vertraut anhört und ich ständig das Gefühl habe, ich müsste verstehen, was gesprochen wird.“
„Ich übersetze für Sie“, erbot sich Hannah. Michael griff unter dem Tisch nach ihrer Hand und strich zärtlich mit dem Daumen darüber. Ihre Haut begann vor Erregung zu kribbeln, und sie hätte nichts dagegen gehabt, stundenlang weitergestreichelt zu werden.
„Trotzdem war es ein Fehler“, sagte er mit gesenkter Stimme. „Ich hätte mich nicht überreden lassen dürfen, Sie mitzunehmen. Wenn ich noch nicht einmal diese verdammte Sprache verstehe …“
„Haben Sie ein wenig Geduld.“ Hannah lächelte nachsichtig. „Ich bin sicher, dass Sie sich wieder an alles erinnern werden.“
„Im Schlaf oder unter dem Einfluss von Laudanum nutzen mir Sprachkenntnisse jedenfalls nichts.“
„Sie haben das Wissen in sich. Ich helfe Ihnen, sich zu erinnern.“ Beruhigend drückte sie seine Hand, und in diesem Augenblick wurde ihr Frühstück
Weitere Kostenlose Bücher