Lady Lavinias Liebestraum
Annahme hätte veranlassen können, er stimme sie sentimental. “Sie ist so überzeugend”, brachte sie schließlich völlig unpassend hervor.
“Ich finde sie einfach wunderbar”, erklärte er und zog sie in einem Anflug von Glückseligkeit noch näher an sich, während sie fast schwerelos übers Parkett glitten. “Du siehst heute besonders bezaubernd aus, Lavinia. Man beneidet mich bestimmt dafür, dass du mit mir tanzt.”
“Vielen Dank”, erwiderte sie knapp, denn sie wollte den Walzer in vollen Zügen genießen. Sie war glücklich, glaubte im Rhythmus der Musik mit James zu verschmelzen, führte er sie doch mit einer Leichtigkeit und Sicherheit, dass sie sich nur den verwirrend schönen Gefühlen, die ihr das Wiegen in seinen Armen erzeugte, hinzugeben brauchte. Dieses seltsame Gefühl tiefster Vertrautheit erklärte sie sich vor allem damit, dass er ihr diesen Tanz beigebracht hatte und daher besonders einfühlsam auf ihre Bewegungen eingehen konnte. Lächelnd schaute sie zu ihm auf und blickte in zwei liebevolle graue Augen, deren Ausdruck noch zärtlicher wurde, als ihre Blicke sich trafen. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Er hatte den Kopf in einer Weise zu ihr vorgeneigt, dass sie sich für einen kurzen Augenblick des Eindrucks nicht erwehren konnte, er wolle sie küssen.
Es stand außer Frage, dass er das nie tun würde, nicht in aller Öffentlichkeit. Ihr gleichermaßen verblüffter wie erschreckter Ausdruck hätte ihn jedoch ohnehin davon abgehalten, ihr so nahezukommen. Verlegen setzte er ein schiefes Lächeln auf und tanzte wie gehabt weiter, bis die letzten Töne verklungen waren und er seine Partnerin ohne ein weiteres Wort zu der Duchess of Loscoe zurückeskortierte.
Der Tanz mit James hatte Lavinia nachdenklich gestimmt. Ihr war bewusst geworden, dass sich zwischen ihnen etwas verändert hatte. Sie war, wie sie nun wusste, ganz erwachsen geworden. Und etwas, das sie für selbstverständlich gehalten hatte, war mit dem Ende der Kindheit unwiederbringlich verloren gegangen. Ein Gefühl größter Besorgtheit bemächtigte sich ihrer, und sie war traurig ob der Ahnung, dass der unbefangene Umgang mit James, das gegenseitige Necken, die geschwisterliche Vertrautheit nicht länger schicklich sein würden.
James war nicht ihr Bruder, wie er sich stets gern hervorzuheben bemühte. Dies würde für Lavinia in Zukunft vor allem bedeuten, dass sie ihn wie die anderen Gentlemen in ihrem Bekanntenkreis zu behandeln hatte: korrekt, höflich und respektvoll. Sie achtete ihn sehr wohl, und er wäre der Erste, an den sie sich wenden würde, käme sie in Schwierigkeiten. Sie vertraute ihm – mehr als dem Vater und der Stiefmutter. Warum also sehe ich mich außerstande, ihm unverzüglich mein Herz auszuschütten über meine Gefühle zu ihm wie auch zu Wincote?, fragte sie sich insgeheim, als James sich vor ihr verbeugte und sich empfahl.
Lord Edmund Wincote verlor keine Zeit und schritt, kaum dass James ihr den Rücken gekehrt hatte, auf sie zu und ergriff ihre Hand, um sie zum Kuss an die Lippen zu führen. Anstatt sie beim Einsetzen der Musik auf die Tanzfläche zu begleiten, legte er die zierliche Hand in seine Armbeuge und begann mit ihr durch den Saal zu schlendern.
“Sie haben doch hoffentlich nichts dagegen, diesen Tanz auszulassen?”, fragte er höflich. “Ich möchte gern mit Ihnen reden, Miss Lavinia.”
“Nein. Was haben Sie auf dem Herzen, Lord Wincote?”
“Ich habe mit Ihrem Papa gesprochen …”
“Ja?”, fragte sie etwas verunsichert.
“Er gab mir die Erlaubnis, Ihnen einen Antrag zu machen. Ich bin überglücklich.”
“Oh”, sagte sie gedankenverloren. Wie es schien, hatte die Stiefmutter noch keine Gelegenheit gefunden, den Gemahl über ihr Gespräch mit Lord Wincote zu informieren. Allerdings könnte sehr wohl die Möglichkeit bestehen, dass der Duke of Loscoe ihre Äußerungen bezüglich ihrer Mitgift bestätigt hatte und es ihren Verehrer nicht kümmerte, ob er die ersten Jahre ihrer Vermählung auf eine stattliche Summe Geldes würde verzichten müssen oder nicht.
“Sie sind sehr schweigsam, meine Liebe. Ich hätte erwartet, dass Sie sich über die Liebenswürdigkeit Ihres Vaters, meinen Bemühungen um Sie wohlgesinnt gegenüberzustehen, ein wenig freuen. Ich sehe jedoch ein, dass dies nicht der richtige Augenblick ist, um weiter darüber zu diskutieren. Wenn Sie erlauben, besuche ich Sie morgen Nachmittag.”
Für einen kurzen Moment war sie geneigt zu
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