Lady Lavinias Liebestraum
verkünden, sie sei morgen nicht daheim, doch gestand sie sich ein, dass eine Flucht ihr nicht dienlich sein konnte. Früher oder später würde sie sich seinen Antrag anhören und eine Entscheidung treffen müssen.
Zum Glück verklang die Musik, und Lady Graham verkündete gut gelaunt, eine Erfrischung erwarte die Gäste im Speisesalon. Lord Wincote fühlte sich aber keineswegs aufgefordert, Lavinia zum Büffet zu begleiten, sondern brachte sie, zu ihrer Überraschung, zu der Stiefmutter zurück, um sich knapp und ohne ein weiteres Wort zu empfehlen und aus dem Ballsaal zu verschwinden. Sich keiner Schuld bewusst, ließ sie sich stattdessen von James in das Speisezimmer eskortieren, wo allerhand Gäste sich wieder dem einzigen Thema dieses Abends widmeten.
Lavinia ließ sich nicht in das Gespräch involvieren, musste sie doch über Edmunds Worte nachgrübeln. Sie fragte sich ernstlich, ob sie ihm wirklich den Eindruck vermittelt habe, sie werde seinen Antrag annehmen. Seine Selbstsicherheit und das entschiedene Auftreten ließen sie jedenfalls vermuten, er sei davon überzeugt, dass sie Ja sage. Der Ernst ihrer Lage zwang sie, sich zu fragen, ob sie den Rest ihres Lebens an seiner Seite verbringen wolle. Unweigerlich musste sie an James denken, wie er mit ihr spaßte und unbeschwert plauderte, und in Anbetracht der Tatsache, dass der Umgang mit Edmund sich bislang alles andere als entspannt gestaltet und sie kein einziges Mal mit ihm gelacht hatte, wusste sie plötzlich, dass sie ihr Leben nicht mit ihm teilen wollte.
Da James sie natürlich nie als Gemahlin in Betracht ziehen würde, hoffte sie, dass irgendwo in der Stadt ein Mann auf sie wartete, bei dem sie sich ebenso wohl- und geborgen fühlen könnte wie bei ihm. Oder durfte sie dies von ihrem Gatten nicht erwarten? Spielt ein Ehemann womöglich eine ganz andere Rolle?, fragte sie sich insgeheim.
Gänzlich überfordert mit diesen folgenschweren Gedanken, entschuldigte sie sich knapp und entfloh dem Salon, die herbeiströmenden Gäste passierend, in das im Obergeschoss gelegene Damenzimmer, wo sie matt auf die Chaiselongue sank und das Gesicht in beide Hände vergrub. Es bestand kein Zweifel daran, dass ihr Leben sich völlig zu verändern im Begriff war.
Ihr erster öffentlicher Ball vor zwei Jahren hatte jedermann verkünden sollen, dass sie den Kinderschuhen entwachsen war. Rückblickend stellte sie aber fest, dass sich seitdem nicht wirklich etwas in ihr verändert hatte. Die Verehrer, die sich um sie geschart hatten, die Bälle, die gefolgt waren, hatten sie in gewisser Weise ähnlich amüsiert wie irgendeines ihrer Spiele aus Jugendtagen. Allein der siebzehnte Geburtstag hatte nicht gleich eine erwachsene Frau aus ihr gemacht.
Jetzt hatte sie das Unvermeidliche eingeholt: Sie spürte, dass sie kein junges Mädchen mehr war, dass ihre Ansprüche und Gedanken nicht länger die eines Kindes waren. Zu dieser Einsicht war sie so plötzlich gelangt, dass sie sich nicht sicher war, ob sie ihr neues Leben mochte. Sofern dies bedeutete, auf James’ Freundschaft verzichten zu müssen, ihr Leben aus den Händen ihres Papas in die eines anderen Mannes zu legen, mochte sie es, so viel stand jedenfalls fest, nicht. Zu heiraten hieß doch für eine Frau, sich – ihre Seele, ihren Körper, ihr Vermögen – dem Wohlwollen eines Gatten auszuliefern, der mit ihr verfahren konnte, wie es ihm beliebte. Nur die unbedingte Gewissheit um seine Liebe und sein Vertrauen würde ihr einen solch wichtigen Schritt möglich machen, das wusste sie nun.
Doch wie konnte sie sichergehen, dass sie den richtigen Mann wählte? Schließlich hatten auch ihr Vater und ihre Mutter keine wirklich glückliche Ehe geführt; erst mit Frances war Liebe und Harmonie in das Haus eingezogen. Also hatte selbst der Mann, den sie zutiefst verehrte, ihr Papa, sich in der Wahl seiner Lebenspartnerin geirrt. Wie sehr sie sich doch wünschte, dass sie ein Zeichen erhielte, was sie tun sollte.
Verwundert hob sie den Kopf, als sie plötzlich Geschrei aus dem unteren Geschoss vernahm. Flugs erhob sie sich und eilte in den Flur auf die Galerie hinaus, von wo aus sie auf die Eingangshalle hinabblicken konnte. Sämtliche Gäste schienen aus dem Ballsaal hinaus auf Lord und Lady Graham zuzuströmen, die kreidebleich und wie erstarrt mitten im Foyer stehen geblieben waren. Die Dame des Hauses fasste sich an die Kehle, als habe jemand sie strangulieren wollen.
Hastig lief Lavinia die Treppe hinab und bahnte
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