Lady Marys romantisches Abenteuer
Monsieur Leclair uns führt.“
Zwei Tage, dachte Mary mit Bedauern, und einer dieser Tage war schon fast vorüber. Miss Wood und Vater hatten klug daran getan, dafür zu sorgen, dass in Calais überhaupt keine Zeit für hinterlistige Manöver blieb. Nur in einem hatten sie sich verrechnet: nämlich darin, welche Tochter gerne ein hinterlistiges Manöver ausführen würde.
„Oh, Monsieur, ich glaube nicht, dass ich das erlauben kann“, sagte Madame Gris, die Frau des Wirtes. Sie bewachte den Eingang zum privaten Esszimmer so gewissenhaft wie eine königliche Wache. Der „Coq d’Or“ musste auf seinen Ruf als respektables Haus achten, besonders wegen der englischen Gäste. „Die junge Dame speist allein und wünscht, nicht gestört zu werden. Ihre Gouvernante und ihre Schwester – le mal de mer , die Seekrankheit, verstehen Sie?“
„Aber das ist doch ein Grund mehr, Madame, warum die Dame etwas Gesellschaft braucht.“ John sah auf das Bukett nieder, das er Lady Mary mitgebracht hatte. Es war ein Strauß aus Nelken und Rosen mit rotem Stoffband. Eben ein Bukett, wie die Franzosen es so hübsch zu arrangieren verstanden. Zu einer anderen Zeit hätte er die Blumen einfach geschickt, doch sollte sich die Sache hier im günstigen Falle zu einer kleinen Tändelei entwickeln. Es war also besser, seine kleine Aufmerksamkeit persönlich vorbeizubringen.
Aber Madame Gris schüttelte noch immer den Kopf. „Dies hier ist keines der skandalösen Häuser, in denen man Stelldicheins verabredet, Monsieur.“
„Lassen Sie die Tür offen, Madame, und lauschen Sie jedem Wort, das zwischen uns gewechselt wird“, sagte John und legte dabei die Hand aufs Herz. „Ich schwöre Ihnen, keine einzige Unschicklichkeit wird über meine Lippen kommen.“
Die Frau des Gastwirts musterte ihn ungläubig. Dann warf sie den Kopf zurück und lachte laut.
„Sie lachen über mich, Madame?“, fragte John, bemüht, verletzt zu klingen. Doch er musste in ihr Lachen einstimmen. Noch nie hatte er Ernsthaftigkeit vortäuschen können, und auch heute Morgen gelang es ihm wieder einmal nicht. „Sie lachen über meinen bescheidenen Anzug?“
„Bescheiden, ha“, sagte sie und stupste ihn mit dem Finger. „Ich wette, dass Sie noch nie in Ihrem Leben in irgendeiner Weise bescheiden waren, Monsieur! Los, gehen Sie schon. Bringen Sie der Dame Ihren Blumenstrauß und legen Sie ihr Ihr Herz zu Füßen. Aber denken Sie daran: Die Tür bleibt offen, und wenn ich von ihr auch nur einen Pieps höre …“
„Keinen Pieps, Madame“, versprach John und zwinkerte ihr verschmitzt zu, während er an ihr vorbeischlüpfte. „Und meinen zutiefst empfundenen Dank für Ihr freundliches Verständnis.“
Madame Gris lachte und versetzte John wieder einen kleinen Stoß. Ihr vergnügtes Lachen folgte ihm, während er den Flur hinunter auf den kleinen privaten Salon zueilte. Schon seit zweihundert Jahren hieß dieses Haus seine respektablen Gäste willkommen. Die breiten alten Dielenbretter knarrten unter Johns Füßen, und der weiß gekalkte Raum vor ihm schien regelrecht zu strahlen. Die Fenster mit dem rautenförmigen, bleigefassten Glas standen weit offen, und helles Sonnenlicht fiel auf das Mädchen.
Lady Mary saß, mit dem Rücken zur halb offenen Tür, in einem gedrechselten Lehnstuhl. Ihr Haar war zu einem losen Knoten aufgesteckt, und der Sonnenschein ließ einige Strähnen, die sich gelöst hatten, tiefrot schimmern. Sie trug ein einfaches, weißes Leinenkleid, dessen Schleppe hinten zu einer großen grünen Schleife gebunden war. Es stand Lady Mary gut. Die Einfachheit passte zu ihrer cremeweißen Haut, dem dunklen Haar, und der üppige Rock, der in der Sonne fast durchsichtig aussah, bauschte sich weich zu Füßen des Stuhls.
Doch was als Allererstes seine Aufmerksamkeit angezogen hatte und John noch immer fesselte, war die feine Linie ihres Halses, neben dem auf beiden Seiten die Perlenohrringe leise hin und her schwangen. Wenn sie so den Kopf leicht über ihr Gedeck beugte, erschien ihr Nacken makellos, von einer fast herzzerreißenden Verletzlichkeit.
John verlagerte sein Gewicht etwas, gerade so viel, dass die Dielen unter seinen Füßen knarrten. Mary fuhr in ihrem Stuhl herum und hielt den Atem an. Die Scheibe Marmeladenbrot in ihrer Hand schien sie vergessen zu haben.
„Sie!“, rief sie, und eine zornige Röte stieg ihr ins Gesicht. „Wie sind Sie hierher gekommen? Wie konnten Sie mich finden?“
„Bitte beruhigen Sie sich, Lady
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