Lady Marys romantisches Abenteuer
gerne als Nächstes sehen?“
Sein Lächeln war freundlich und vorsichtig zugleich. „Wollen Sie wirklich das Reliquiar sehen?“
„Mit dem uralten, aber wohl erhaltenen Kopf?“ Sie schauderte. „Nein. Und Sie auch nicht, glaube ich, obwohl der Kopf Ihrem Namenspatron gehört.“
Sein Lächeln entspannte sich etwas. „Glücklicherweise tragen Namenspatrone in England weniger Verantwortung. Einem armen Burschen, der wegen einer Tänzerin seinen Kopf verlor, würde ich gar nicht so gerne mein Schicksal anvertrauen.“
„Still, Sie sollten hier keine solchen Späße machen“, flüsterte sie. Aber auch sie war jetzt entspannter. „Ich habe gelesen, die Schnitzereien des Chorgestühls seien äußerst beeindruckend.“
„Dann lassen wir uns doch einmal gebührend beeindrucken“, antwortete er. Er war unter eines der Buntglasfenster getreten, und nun war sein heller Rock rautenförmig rot, grün und blau gescheckt wie bei einem Harlekin. „Wir können sie ganz gut auch ohne unseren Führer finden. Ist es zu glauben, dass in Frankreich selbst ein heiliger Mann Trinkgeld erwartet?“
„Sie haben mich davor gewarnt.“
Sein Lächeln schwand. „Ich habe Sie vor vielen Dingen gewarnt“, sagte er leise und bot ihr den Arm.
Langsam gingen sie durch das lange Hauptschiff der Kathedrale. Zu dieser Stunde war die Morgenmesse schon vorbei, und nur noch wenige Betende und Pilger hielten sich in dem weiten Raum auf. Mary und John waren erkennbar die einzigen Engländer. Auf beiden Seiten erhoben sich schlanke Steinsäulen zu einer unglaublichen Höhe und wölbten sich oben wie das zarte Geäst von Waldbäumen. Sie waren so hoch, dass Mary den Kopf weit in den Nacken legen musste, um die erlesenen Verzierungen an der Decke zu betrachten. Wie sie so unter all dieser Pracht stand, fühlte sie sich klein, demütig und unbedeutend, so, wie es vor langer Zeit die Erbauer der Kathedrale geplant haben mussten.
„Wie, glauben Sie, haben die Menschen solch ein Gebäude geschaffen?“, überlegte sie leise flüsternd. „Vor fünfhundert Jahren, ohne modernes Gerät und ohne Komfort!“
„Vater Simon würde Ihnen antworten, sie hatten die Kraft ihres Glaubens“, erwiderte John, während er ebenfalls nach oben blickte. „Das ist der Zweck des Ganzen – selbst den frechsten Heiden diese Ehrfurcht verspüren zu lassen. Ihr Engel kann das auch.“
Sie wandte sich ihm zu. „Er würde sich hier zu Hause fühlen, glaube ich.“
„Wahrscheinlich“, sagte er leichthin. Dann runzelte er die Stirn und musterte sie. „Sie haben das Bild doch nicht bei sich, oder?“
„Hier?“, fragte sie ungläubig. „Wo sollte ich es denn verstecken? Unter meinem Hut? Wenn ich Hofkleidung trüge, könnte ich es vielleicht in meinem Reifrock verstecken, doch nicht in dieser Kleidung.“
Er sah jetzt reumütig aus. „Sie haben recht: Natürlich haben Sie es im Gasthof gelassen.“
Sie nickte und zögerte, ihm ihr letztes Versteck im Gasthaus zu verraten. „Es ist an einem sicheren Platz, oh ja.“
„Dann lassen Sie es dort“, sagte er, „während wir jetzt dieses Chorgestühl suchen.“
Die Schnitzereien des Gestühls waren genauso wunderbar, wie Mary gehört hatte. Jeder Zoll des goldfarbenen Eichenpaneels zeigte biblische Geschichten und Alltagsbilder aus dem damaligen Amiens. Doch selbst während sie und John in dem Gestühl hin und her gingen, sich gegenseitig dort auf einen besonders ausdrucksstarken Heiligen, hier auf die amüsante Körperhaltung eines Esels aufmerksam machten, war sie sich brennend, ja fast schmerzhaft der Gegenwart des Mannes neben ihr bewusst.
Er lobte ihre Beobachtungsgabe, und sie staunte darüber, weil er der erste Mann war, der ihr überhaupt zuhörte. Er lachte, und sie wunderte sich, weil sie beide genau die gleichen Dinge amüsant fanden. Sein Ärmel streifte ihren Arm, und das genügte, um sie am ganzen Körper erschauern zu lassen. Er lächelte sie an, und sie erinnerte sich daran, wie es gewesen war, als diese Lippen sie geküsst hatten.
„Behalten Sie den Faltenwurf an diesen Figuren in Erinnerung“, sagte er gerade, während er die Finger leicht über das Gewand einer winzigen geschnitzten Madonna gleiten ließ. „Wenn Sie die großen Kirchen Italiens besuchen, werden Sie sehen, wie unterschiedlich die Holzschnitzer dort den gleichen Entwurf ausführen. Die Kanten werden klarer sein, mehr …“
„Wieso sind Sie hier?“, platzte Mary heraus, unfähig, noch länger zu
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