Lady Marys romantisches Abenteuer
Tablett zurück. Entrüstung war die einzige Verteidigung, derer sie sich Diana gegenüber bedienen konnte, auch wenn sie zugeben musste, dass es mit ihrer Empörung tatsächlich nicht weit her war.
Doch für Miss Wood reichte sie aus. „Für solche Narrheiten ist es noch zu früh am Morgen, Mylady“, sagte sie tadelnd. „Kommen Sie, stehen Sie auf und ziehen Sie sich an. Und hören Sie auf, zu sticheln und Ihre Schwester in Harnisch zu bringen.“
„Und außerdem gebe ich keinen Schilling auf deine Anspielungen, Diana“, sagte Mary. Unter gar keinen Umständen hätte sie mit Diana über diesen Kuss gesprochen. Er war etwas Leidenschaftliches, Seltenes gewesen. Etwas, das Diana, die mehr Küsse erhalten hatte, als sie zählen konnte, niemals verstehen würde. „Seine Lordschaft ist bereits auf dem direkten Weg zurück nach Calais und von da aus dann nach London. Es ist also höchst unwahrscheinlich, dass wir ihn wiedersehen.“
„Verzeihen Sie, Mylady“, mischte sich Miss Wood ein, „aber das entspricht nicht mehr der Wahrheit. Ich habe vorhin, als Sie noch schliefen, mit Seiner Lordschaft gesprochen. Er hat beschlossen, seine Pläne zu ändern. Er ist ein so rücksichtsvoller Herr! Wie ich gehört habe, haben Sie ihm letzte Nacht erzählt, dass der arme Monsieur Leclair aufgehalten worden ist. Seine Lordschaft war voller Mitgefühl und so besorgt um unser Wohlergehen, weil wir nun keinen Fremdenführer mehr haben, dass er sich anbot, uns nach Paris zu begleiten.“
„Das hat er wirklich?“, rief Mary mehr erschrocken als erfreut aus. Sie hatte sich bereits damit abgefunden gehabt, John nie mehr wiederzusehen. Wenn er jetzt mit ihnen zusammen reiste, würde sie das mit allen möglichen schwierigen Fragen konfrontieren. Was sollte sie sagen? Wie sollte sie sich benehmen? Wie sollte sie ihm nach der vergangenen Nacht gegenübertreten? „Das hat er nicht!“
Diana lachte vergnügt auf. „Dann musst du ihn letzte Nacht doch geküsst haben. Sogar so gut, dass er nach mehr verlangt!“
Aber Mary war schon zurück zum Fenster geeilt und reckte den Hals, um einen Blick auf ihre Kutsche zu werfen. John konnte unmöglich den ganzen Weg nach Paris mit ihnen zusammen reisen, nicht nach dieser Nacht. Aber da wartete er bereits im Hof, genau, wie sie befürchtet hatte, lachte und plauderte mit den Reitknechten, Stalljungen und Dienern und sah dabei so fröhlich aus, als hätte der sonnige Morgen die vergangene Nacht ausgelöscht. So, als hätte er letzte Nacht nicht mit ihr über Mord, Brandstiftung und Diebstahl gesprochen, nicht darüber, warum ihr Bild ein solches Geheimnis enthielt und dass andere bereit waren zu töten, um es zu besitzen. Und auch nicht über die Seufzer und Augenaufschläge ihrer Schwester.
Als hätte er sie nicht mit solchem Hunger und solch einer Begierde geküsst, dass sie es nie wieder würde vergessen können. Der Kuss hatte sie verwirrt und verletzlich zurückgelassen.
„Ich glaube, Seine Lordschaft wird ein wunderbarer Gewinn für unsere Reise sein“, meinte Miss Wood neben ihr gerade voller Begeisterung. „Und er sprach so voller Hochachtung und Bewunderung von Ihnen, Mylady, dass ich annahm, Sie wären ebenfalls erfreut.“
„Oh ja“, murmelte Mary unglücklich. „Wirklich höchst erfreut.“
6. KAPITEL
„Erzählen Sie uns, Bruder“, bat John, während er stehen blieb, um den gefliesten Boden zu betrachten, der sich durch das ganze Kirchenschiff der Kathedrale von Notre Dame in Amiens hinzog. „Stimmt es, dass die katholischen Gläubigen hier auf den Knien bis hin zum Altar rutschen?“
Der alte Mönch, der sie führte, nickte ernst. Seine Tonsur schimmerte schwach in dem Dämmerlicht, das die hohen Fenster ins Innere ließen. „Es stimmt, Mylord. Sie sehen, dass die Fliesen nach einem Muster gelegt sind. Es ist ein Labyrinth, wie ein Schlangenleib ineinander verschlungen. Die gläubigsten Pilger folgen auf den Knien jeder Windung, während sie beten. So bieten sie Gott ihre Schmerzen als ein unwürdiges Geschenk dar.“
„Gütiger Himmel“, murmelte Miss Wood und hielt sich mit einer Hand an Johns Arm fest. „Was für eine schmerzhafte Art, seinen Glauben zu bezeugen!“
„Es gibt viele Wege zur wahren Rechtschaffenheit, Miss, und keiner ist leicht“, meinte der Mönch milde. In einiger Entfernung wischte ein halbes Dutzend älterer Frauen den Steinboden mit Besen, die so knorrig waren wie sie selbst. „Dafür ist das Labyrinth ein Symbol. Heute sind die
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