Ladylike
schon gelbe Blätter.«
»Das ist ein sehr alter Baum«, sagt Anneliese, »er wird es leider nicht mehr lange machen. Im letzten Sommer ist ein großer Ast mit reifen Kirschen einfach abgekracht. An der Bruchstelle konnte ich erkennen, daß der Stamm teilweise innen hohl ist. Zum Glück wohnte Lore damals noch nicht hier, denn genau an dieser Stelle ist ihr liebstes Plätzchen.«
Etwas befremdet sehe ich meine Freundin an. Warum hat sie mir das bisher verschwiegen? Wie, wenn jetzt ein zweiter großer Ast abbräche und mich erschlüge?
»Wir sind doch selbst wie alte Bäume«, sagt Ewald melancholisch, »morsch, hohl und reif für die Axt des großen Gärtners!«
»Aber du doch nicht!« sage ich mit Wärme.
Seine Miene hellt sich sofort wieder auf. »Ihr beiden auch nicht«, meint er herzlich.
Wir schweigen alle drei und schauen einer Amsel zu, die ganz in der Nähe unserer Sitzecke ihr Nest auf einem Fensterladen gebaut hat, ihre Jungen füttert und sich nicht von uns stören läßt.
Als auch mein Telefon klingelt, flitze ich hinauf ins obere Stockwerk. Es ist Rudi, von dem ich seit unserem Ausflug nach Baden-Baden nichts mehr gehört habe. Es gibt keine besonderen Neuigkeiten.
»Heute war ein Soldat der 1. amerikanischen Panzerdivision im Laden«, erzählt er, »der suchte doch tatsächlich nach einem Eisernen Kreuz aus dem Zweiten Weltkrieg! Ich habe ihm aber den teuren französischen Orden der Ehrenlegion andrehen können.« Anscheinend hat weder Rudi noch seine russische Kundschaft den geklauten Schmuck vermißt.
Mit dem Hörer am Ohr stelle ich mich ans Fenster, von wo ich einen guten Ausguck auf die Terrasse habe. Annemarie hat ihre Hand auf Ewalds Arm gelegt und redet fast beschwörend auf ihn ein. Er lächelt und zieht sie plötzlich an sich.
Ich bin so wütend, daß ich Rudi grundlos brüskiere. »Anstandshalber hättest du dich ja längst mal melden können, aber Dankbarkeit ist wohl nicht dein Ding«, fahre ich ihn an und lege auf. Sofort tut es mir leid, aber ich bin zu stolz, um noch einmal anzurufen und mich zu entschuldigen.
Dann gehe ich ins Schlafzimmer und stelle mich erst einmal schwer atmend vor den Spiegel. Bin ich nicht viel schöner als meine dicke Freundin? Wie kann sich dieser Trottel nur so plump an Anneliese heranmachen! Und warum rege ich mich eigentlich so auf? Will ich etwa auch von Ewald geküßt werden? Ich will einen solchen Casanova doch nicht einmal geschenkt haben! Nach fünfminütiger Atempause bin ich wieder einigermaßen im Lot und begebe mich hinunter.
»Schönen Gruß von Rudi«, sage ich beiläufig.
Die beiden Turteltauben machen ein Gesicht, als könnten sie kein Wässerlein trüben. Ewald verabschiedet sich bald.
»Eigentlich habe ich erwartet, daß er zum Abendessen bleibt«, meint Anneliese und stellt die Kaffeetassen zusammen. »Als du oben warst, hat Ewald mir sein Herz ausgeschüttet. Es ist ja ein Elend mit seiner Frau!«
»Dann wird wohl bald ein Bärlauchsüpplein fällig«, meine ich.
Anneliese nimmt meine Worte ernst. »Männer sind diesbezüglich ziemlich lahm«, sagt sie, »an seiner Stelle hätte ich schon längst etwas unternommen.«
Allmählich platzt mir der Kragen. »Bist du noch nie auf die Idee gekommen, daß Ewald seinen Spatz vielleicht liebt? Er hat sich extra im Hotel einquartiert, um ihr nahe zu sein und sie zweimal am Tag zu besuchen. Spricht das etwa dafür, daß er sie loswerden will?«
»Ach, was weißt denn du«, sagt Anneliese.
Manchmal liege ich im Bett und ziehe Bilanz über mein bisheriges Leben. Ich muß es hinnehmen, daß ich umständlicher werde, aber in meinem Alter kann man sich sowieso kaum mehr ändern und muß akzeptieren, daß man noch nie perfekt war. Troisième âge nennen die Franzosen das Rentnerdasein. Richtig alt fühlen wir uns zwar nicht, aber auf keinen Fall noch jung. Morgen werde ich Anneliese fragen, ob sie das ebenso empfindet oder ob sie immer weiter davon träumt, sich wie ein Teenager zu verlieben. Immerhin ist mir aufgefallen, daß sie ihre Kleidung sorgfältiger aussucht, seit ihr Tanzstundenherr uns besucht. Es könnte sogar sein, daß sie abnehmen will, denn sie läßt nach der täglichen Kuchenschlacht das Abendessen ausfallen.
Mit Ewald sprachen wir gestern davon, über wie viele Jahrzehnte unser Leben von Aufgaben bestimmt war, die wir uns nicht ausgesucht hatten. Bei Männern ist es der Beruf, der stets auch Ärger, Stress, langweilige Routine oder gar Mißerfolg bedeutet, bei
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