Laennaeus, Olle
Den
Worten Zeit geben, sich zu setzen. Der Schweiß bricht ihnen aus, aber sie nehmen
es nicht wahr. Auf der Straße kommt ein Polizeiwagen angefahren, und zwei uniformierte
Männer steigen aus und betätigen die Gegensprechanlage des Gefängnisses. Sie werden
hereingelassen, und das grüngestrichene Eisentor schließt sich wieder hinter ihnen.
Als Konrad den Wagen starten will,
sagt Gertrud: «Wir müssen noch eine Sache erledigen, bevor wir wieder zurückfahren.»
Er schaut sie an.
«Ich möchte dir etwas zeigen, das mit
mir zu tun hat und das du wissen sollst.»
«Ich will alles über dich wissen.»
Sie wendet sich ab. «Bist du dir da sicher?»
Konrad legt den Rückwärtsgang ein und
rangiert den Wagen aus der Parklücke. Die Müdigkeit verlangsamt sein Denken. Der
Frust. Es ist, als irre er in einem Nebel herum, der sich hin und wieder lichtet,
um ihn einen Zipfel von dem, was er sucht, erhaschen zu lassen und sich daraufhin
wieder zu verdichten. Er jagt ein Wesen, das sich jedes Mal, wenn er sich nähert,
wieder in Luft auflöst. Er will sich blind nach vorne werfen, in der Hoffnung, etwas
Handfestes zwischen die Finger zu bekommen, etwas, das bleibt und sich erklären
lässt. Aber im Moment fühlen sich seine Beine so kraftlos an, dass er sogar Mühe
hat, die Kupplung durchzutreten.
Die nachfolgende Frage liest Gertrud
ihm von den Lippen ab, ohne dass er den Mund öffnen muss.
«Es ist nicht weit. Fahr einfach in
Richtung Innenstadt», sagt sie.
Er tut, wie ihm geheißen. Am Ende des
Lundaväg fordert sie ihn auf, links abzubiegen. Sie fahren den Nobelväg in Richtung
Süden, an einem Industriegebiet vorbei, bis sich auf beiden Seiten der Straße ein
schattiger Friedhof ausbreitet.
«Park hier.»
Sie steigen aus dem Wagen. St. Pauli Friedhof steht auf dem Schild. Gertrud geht mit zielstrebigen Schritten einen Kiesweg
entlang. Konrad folgt ihr. Doch in Gedanken ist er immer noch in der beengten Besucherzelle
in Kirseberg. In seinem Inneren hört er Lehes beseelte Stimme: Ich weiß, wo diese
Polin ist. Konrad versucht, sich ein Bild von Benga, dem versoffenen alten Junkie,
in Erinnerung zu rufen, aber er sieht lediglich diesen grinsenden Typen vor sich,
der immer mit Klas herumgehangen und irgendwo im Hintergrund gestanden hat. Hatte
es überhaupt irgendeine Bedeutung, was er da ein paar Tage, bevor er sich mit seinem
Stromkabel erhängte, im Knast gefaselt hat? Vielleicht bestand sein zugekifftes
Hirn nur noch aus Brei. Das ist durchaus möglich.
Doch Konrad kann sich nicht von dem
Gedanken freimachen, dass Benga mit Sicherheit sein Herz erleichtern wollte.
Als er in einiger Entfernung eine Kapelle
zwischen den Bäumen erblickt, bleibt Gertrud stehen. Die Sonne ist inzwischen bis
auf das Kupferdach gesunken, sodass nur noch wenige spärliche Strahlen ihren Weg
durch die Baumkronen finden. Das Grab, auf das Gertrud schaut, liegt völlig im Schatten.
Es ist mit einem schlichten roten Granitstein
versehen. Linda Myrberg 1984-2004 steht darauf.
Nichts weiter. Der Blumenstrauß in der bläulichen Vase ist welk und vertrocknet.
Konrad begreift zuerst gar nichts.
Der Name lässt ihn zusammenfahren. Und natürlich die Jahreszahl. Ein Mädchen, das
gerade mal zwanzig Jahre alt war, als sie starb. Dann dringt eine Ahnung in sein
Bewusstsein. Das Foto in Gertruds Wohnung. Das kleine Mädchen, das sie so liebevoll
umarmt hat. Er wendet sich ihr zu und sieht, dass sie kämpfen muss, um ihre Gefühle
zurückzuhalten. Ihr Gesicht wirkt angespannt, die Lippen sind fest zusammengepresst.
Eine einzelne Träne kullert aus ihrem Augenwinkel, doch sie wischt sie rasch mit
der Hand weg.
«Du hast doch gesagt, dass du keine
Kinder hast.»
«Das stimmt auch.»
«Und wer ist dann ...?»
«Linda ist Lehes Tochter», sagt Gertrud
schnell. «Sie war seine Tochter, bis ... ja, bis sie meine geworden ist.»
Mit einem Mal fließen ihr die Tränen
nur so die Wangen herunter. Konrad legt die Arme um sie und drückt sie fest an sich.
Sie vergräbt ihr Gesicht an seiner Brust, und als er sie schniefen hört, erfüllt
ihn eine Zärtlichkeit.
«Du musst es mir erklären», murmelt
er in ihr Haar.
Nach einer Weile löst sie sich aus
seiner Umarmung und kramt ein Taschentuch hervor. Sie schnäuzt sich geräuschvoll.
«Lelle wollte, dass sie ein richtiges
Grab hier in Malmö bekommt. Sodass er sie besuchen kann, wenn er aus dem Gefängnis
freikommt. Oder wenn er mal Hafturlaub hat.»
Gertrud lächelt mit ihren feuchten
Augen
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