Laennaeus, Olle
dem
Haus war mit erwartungsvollen Menschen gefüllt. Überwiegend Kinder, die von der
Ankündigung gehört hatten. Konrad stand unter den Vordersten, doch ein wenig abseits
wie immer. Aber es waren auch Hausfrauen gekommen und Männer, die Urlaub hatten,
angelockt von den spektakulären Plakaten, die in den vergangenen Tagen an Bäumen
und Hauswänden im Ort aufgetaucht waren. Nur wenige von ihnen hatten jemals zuvor
einen Fuß in den wild wuchernden Garten der Myrbergs gesetzt, geschweige denn das
Haus betreten. Aber das hier war schließlich etwas ganz Besonderes. Eine Mondlandung,
jetzt war der jüngste Spross der Familie wohl vollkommen übergeschnappt.
Sven war lange Zeit wie besessen gewesen.
Er war einer der Ersten, die sich das Poster bei Texaco besorgten. Mit dem Bild
von dem schwebenden grauen Himmelskörper, umgeben von absoluter Dunkelheit. Stundenlang
hatte er in seinem Zimmer gesessen und auf all die Meere mit den fantasievollen
Namen gestarrt: «Mare Nubium», das Wolkenmeer. «Mare Crisium», das Meer der Gefahren.
Und «Mare Tranquillitatis», das Meer der Ruhe. Dort würden sie landen, und dort
hatte Sven bereits im Voraus eine Nadel mit einer amerikanischen Flagge hineingedrückt.
«Neil wird der Erste sein, der aussteigt»,
teilte er einige Tage im Voraus nonchalant mit. «Er ist der Beste, den die NASA
hat. Buzz muss sich gedulden.»
Sven hatte schon lange aufgehört, die
Astronauten beim Nachnamen zu nennen.
An dem denkwürdigen Tag, an dem Apollo
11 auf die staubige Oberfläche des Mondes hinabglitt, starrte er wie gebannt auf
den Schwarz-Weiß-Fernseher der Familie, eingezwängt im Pulk seiner wild gestikulierenden
älteren Geschwister. Alle plapperten durcheinander, nur Sven war still. Vielleicht
hatte bereits damals sein grandioser Plan begonnen, Gestalt anzunehmen.
Zuerst hatte Sven allerdings an eine
Art Kapsel gedacht. Einmal zeigte er Konrad eine Skizze. Ein kleines Gehäuse aus
zusammengenagelten Brettern, mit Alufolie umhüllt, die er von seiner Mutter stibitzen
wollte. Einen Fallschirm konnte man leicht aus alten Bettlaken nähen. Doch es scheiterte
am Katapult.
«Wie zum Teufel baut man ein Katapult?»,
seufzte Sven missmutig, während er hinter dem Hühnerstall grübelnd mit seinen Clogs
im Kies scharrte.
Schließlich sah er ein, dass er seinen
Plan revidieren musste. Er fuhr mit dem Fahrrad zur Bücherei und lieh sich zwei
Bücher aus: «Die Grundlagen der Aerodynamik» von Wolfgang von Schwarzkopf, einen
dicken Wälzer mit vielen Zahlen. Und «Die genialen Gebrüder Wright» von John McGregor.
Letzteres nahm er mit, um sich von den Bildern inspirieren zu lassen.
Mehrere Wochen lang war Sven in beide
Bücher versunken, machte sich Notizen und berechnete Windstärken, bis er eines
Tages auf dem Sportplatz auftauchte, wo gebolzt wurde. Er trug einen Stapel bunter
Zeichnungen unterm Arm. Mit feierlicher Miene heftete er eine von ihnen mit Reißzwecken
an das Schwarze Brett, quer über die Ligatabelle der Juniorenmannschaften.
Sensation! Der erste Schwede landet
auf DEM MOND.
Das Bild, das das bevorstehende Ereignis
illustrieren sollte, versprach ein phantastisches Abenteuer. Es war eine futuristische
Collage aus einer Zeichnung und aus Zeitschriften ausgeschnittenen Fotos.
Als Sven sein Plakat aufgehängt hatte,
drehte er sich um, formte die Hände zu einem Trichter und rief aus voller Kehle
über den Fußballplatz:
«Am Donnerstag ist es so weit. Punkt
drei Uhr. Da werdet ihr, verdammt nochmal, einen sehen, der zum Mond fliegt!»
V om Haus der
Familie Myrberg waren es gut und gerne hundertfünfzig Meter bis zum «Mond». Doch
sowohl die Windverhältnisse als auch die Topographie begünstigten Svens Vorhaben.
Der Wind kam fast genau aus Westen,
und Svens Berechnungen zufolge musste somit eine Art Thermik entstehen, die am
westlichen Giebel des riesigen Steinhauses hinaufzog. Er hatte sich eingehend mit
dem Mysterium des Fliegens befasst. Mit Drachen. Albatrossen. Und mit Ricky Bruchs
Fähigkeit, den Diskus bei Gegenwind extra weit zu schleudern.
Vom Haus aus fiel das Gelände ziemlich
steil zum Myrsjö hin ab, einem kleinen, trüben Gewässer, in dem sich Frösche und
Karpfen tummelten.
Ein Stück vom Ufer entfernt lag «der
Mond».
Die Insel hatte den Namen ihrem Aussehen
zu verdanken. Der kahle, gewölbte Erdhügel, der sich aus der Wasseroberfläche erhob,
ähnelte mit seinen Felsen und Kratern tatsächlich der Oberfläche des Mondes. Nur
ein Baum störte das
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