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Laessliche Todsuenden

Laessliche Todsuenden

Titel: Laessliche Todsuenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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Graben-Espresso hatte es sich irgendwie eingebürgert, dass er alle paar Tage bei dem Mädchen zum Frühstück erschien, sehr früh am Morgen, er brachte Semmeln und Marmelade, manchmal Butter und Milch. Das Mädchen wohnte, überraschend genug, in der Innenstadt, in einem Hinterhof auf dem Dachboden. Cajou fand es so primitiv wie romantisch, für ihn war es wie ein Versteck. Es war seine Heimatstadt, aber die Rückseite davon. Wenn er kam, war das Mädchen längst angezogen und roch nach einem weitverbreiteten Deo, nur seine dicken schwarzen Haare waren selten gekämmt. Das Mädchen erschien Cajou fremd und klug. Hinter seiner ironischen Nervosität lag ein tiefes Wasser, an das er nicht herankam. Und es war sehr jung, gerade ein paar Jahre älter als sein ältestes Kind. Seinen Vornamen fand Cajou allerdings zu gewöhnlich, er gab ihm deshalb einfach einen neuen. Er lachte es aus, weil es seine Frühstückssemmel mit dem Messer aufschnitt, und das Mädchen änderte das bereitwillig. Es ließ sich anders nennen und riss, jedenfalls vor seinen Augen, die Semmeln von nun an mit den Fingern auf, aber davon abgesehen hielt es ihm vorläufig stand.
    Bald wusste das Mädchen alles darüber, warum die Ostexpansion im vergangenen Jahr so spektakulär gescheitert war und wie prekär Cajous Position seither war. Es kannte Helmut Url, dessen Frau und Einbauwand, als habe es selbst dort schon Fasan mit Knoblauch gegessen, und ebenso gut kannte es die periodisch heulende Sekretärin und den intriganten Pferdehintern, der in der ersten kleinen Krise zur Konkurrenz übergelaufen war und ihm von dort das Leben schwer machte. Es wusste Bescheid über Cajous Kindheit, über Feri und die Schwestern, über Isolde und Marie-Thérèse, auch über die Geschäftsführerin des Palmenhauses und die paar anderen in der Reihe. Er erzählte sogar von dem wiederkehrenden Wahnbild, dass er sein Gehirn offen und zuckend vor sich liegen sah. »Das Gehirn zuckt nicht«, wandte das Mädchen ein.
    Es wunderte sich, dass er Isolde nie wiedergesehen hatte. Die Szene, als Isolde vor ihm kniete und er sich losriss wie ein Hagestolz, missfiel dem Mädchen. »Man darf so nicht gehen«, widersprach es, und einen Moment lang war Cajou erbost. Was wusste es schon? Es war beinahe noch ein Kind. Es schüttelte den Kopf, weil offensichtlich war, was er dachte, und wies ihn darauf hin, dass es so alt sei wie Isolde damals.
    Wenn er unterwegs war, schickte er dem Mädchen lange Briefe. Spätnachts saß er in Hotelzimmern und füllte Seite um Seite. Aber meistens musste er nicht mehr allzu weit weg, in die Schweiz oder nach Deutschland, und wenn er die Nacht hindurch fuhr, kam er zum Frühstück gerade zurecht.
    Nur manchmal rief er es an. Wenn er es nicht erreichte, war er wie vor den Kopf gestoßen, doch Vorwürfe verbat es sich. Es hatte einen Freund, mit dem es unglücklich war und den es angeblich liebte. Cajou war das ganz egal. Es gab von diesem Freund kaum Spuren, dieser Freund schränkte ihn nicht ein. Das Mädchen war seine Zuflucht, sein Beichtstuhl und sein Korrektiv, es war unerreichbar und ganz nah. Von außen würde seine Obsession skandalös wirken, versuchte Cajou sich gelegentlich klarzumachen, aber es gab ja kein außen. Es gab eine serbische Hausmeisterin, die ihn manchmal im Stiegenhaus grüßte, die aber kaum wissen konnte, wohin er ging.
    Er sagte dem Mädchen fast täglich, dass es keinen Menschen auf der Welt gäbe, mit dem ihm wohler sei. Es schien das nicht gern zu hören, es wandte sich ab oder erwiderte, dass das nicht sein Verdienst sei. Cajou lachte es aus, ausgelassen, frech. Eine Weile glaubte er tatsächlich, eine neue Beziehungsform gefunden zu haben, einen »Lebensmenschen«, wie Thomas Bernhard das genannt hatte. Das Mädchen hatte viel Bernhard in ihren Regalen.
    Cajous Haltung zu sich selbst radikalisierte sich über die Wochen; die Analyse geriet immer mehr zur Generalabrechnung. Dieses Mädchen, das ihm mit seinen treffsicheren Fragen bewies, dass es viel geordneter denken konnte als er, hätte seine Richterin sein können, aber das wollte es gar nicht. Es nützte seine Selbstanklagen nicht zustimmend aus, es blieb auf Abstand. Cajou fragte sich nicht, was es von alldem hielt, als was es ihn in seinem Leben einordnete. Die Hauptsache war: Es widmete sich ihm mit gleichbleibender kritischer Konzentration. Und es lachte über seinen gallenbitteren Humor, nicht weil es ihn abtat, wie Marie-Thérèse, sondern weil es ihn

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