Lakritze - Thueringen Krimi
unterschied. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass die beiden tatsächlich Geschwister waren.
Aber Helene hatte völlig normal geklungen, als sie ihm von ihrem Leben mit dem Bruder erzählt hatte. Sie hatte ihn nicht angelogen, das hätte er mit Sicherheit bemerkt, an ihrer Stimme, an ihrem Gesicht. Ralph hätte nicht sagen können, woher er diese Gewissheit nahm. Es war einfach so. Unnötig, auf eine derart klare Sache Gedanken zu verschwenden.
Wenn er in Carla bloß ebenso deutlich lesen könnte wie in Helene. In den letzten Tagen musste etwas geschehen sein, das ihm Carla entfremdet hatte. Sie hatte sich von ihm zurückgezogen. Er rieb sich die Oberarme. Wie so oft ließ er die vergangenen Tage Revue passieren. Carla und er beim Essen im Krug oder zum Frühstück unten in der Pension. Die Radtour, die Wanderung im Wald, die Rehe. Sie beide im Bett. Hatte er etwas falsch gemacht? Hatte er Worte gesagt, die sie verletzt haben konnten?
Ralph schüttelte den Kopf. Nein, er war sich keiner Schuld bewusst. Vielleicht lag es an den toten Mädchen, dass Carla anders war als in der Klinik. Er wollte es glauben, doch die Zweifel blieben. Carla war Journalistin. Sie konnte mit Gewalt und Leid umgehen.
Sein Blick fiel auf das Notebook, das auf dem Tisch lag. Er trat hinzu und öffnete es. Wie von allein glitten seine Finger über die Tasten. Carla hatte sich nicht ausgeloggt. Als er den Verlauf durchsuchte, erstarrte er. Libyen. Der Name, das Land war ihm vertraut, er weckte Erinnerungen. Ein Gerichtssaal, in den eine junge Frau geführt wurde. Nicht als Angeklagte, als Zeugin sollte sie aussagen, die sanfte Sarah, die in Bengasi Tür an Tür mit ihm gewohnt und sich immer aus allem herausgehalten hatte. Jetzt sollte ihr die Arbeit in dem Kinderkrankenhaus zum Verhängnis werden. Ralph konnte noch immer die Angst in ihrem Gesicht vor sich sehen, den hilfesuchenden Blick, den sie ihm zugeworfen hatte. Bei Nacht und Nebel hatte er ihr zur Flucht verholfen. Quer durch Afrika waren sie gehetzt. Er hatte daran geglaubt, dass es gut gehen würde, er hatte schließlich alles bedacht. Bis er Sarah eines Tages im roten Wüstensand gefunden hatte. Tot. Ermordet. Erinnerungen sind wie Kakteen, stachlig und schmerzhaft, wenn man an ihnen rührt.
Ein trockenes Schluchzen stieg in ihm auf. Für einen Moment meinte er, keine Luft zu bekommen. Was hatte ihn noch mit Sarah verbunden?
Er tippte den Namen »Sarah« und »Bengasi« in die Suchmaschine. Kein Treffer, der einen Rückschluss auf die junge Frau zuließ. Ralph versuchte es erneut, er wählte andere Wörter, andere Städte. Vergebens.
»Verdammt!« Er knallte die Faust auf die Tischplatte. Der PC blieb unbeirrt bei seinem Bild, als wolle er ihn daran hindern, tiefer in die Vergangenheit einzudringen.
Ralph hätte nicht sagen können, wie lange er stumm vor sich hin gestarrt hatte. Doch irgendwann legte sich seine Verzweiflung. Eines war ihm nun bewusst geworden: Die Erinnerungen schlummerten in ihm, es lag allein an ihm, wann sie zum Vorschein kommen sollten.
Autogenes Training war eine Möglichkeit, sich zu erinnern. Zumindest hatten seine Vorgesetzten davon gesprochen. Er schreckte auf. Welche Vorgesetzten, um Himmels willen?
Autogenes Training – er hatte es Überlebenskunst genannt. Verdränge das Grauen, damit du dich dem Naheliegenden widmen kannst.
Das Grauen – allein das Wort erschreckte ihn.
Wer, zum Teufel, war er?
Widme dich dem Naheliegenden , dröhnte es in seinen Ohren. Das Naheliegende war, stabil zu werden. Doch im Augenblick fühlte er sich schwach und ausgelaugt wie nach einem Marathon.
Nein, jetzt war er nicht in der Lage, mit Hilfe des Computers sein Erinnerungsvermögen herauszufordern.
Er zwang sich, an Carla zu denken. Sie hatte gesagt, sie arbeite an ihrem Kaninchen-Artikel. Gab es eine Verbindung zu den arabischen Ländern? Wohl nicht. Es blieb nur eine Erklärung: Carla hatte etwas vor ihm verbergen wollen. Sein Eindruck hatte ihn nicht getäuscht.
Ein ratterndes Geräusch unten im Hof ließ ihn zusammenzucken. Er trat an das offene Fenster und schaute hinaus.
Dieser Knubbel zerrte einen hoch mit Heu beladenen Handwagen über das Kopfsteinpflaster. Das Gefährt schwankte wie Schilfrohr im Wind und drohte jeden Moment umzukippen.
»Warten Sie«, rief Ralph, »ich helfe Ihnen.« Er klappte den Laptop zu und rannte die Treppen hinunter.
Im Hof stemmte er sich von hinten gegen den Wagen. Die Karre stand wie angewachsen.
»Mein Gott, was
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