Lamarchos
die Räder des Wohnwagens verdreht. Sie hakte den schlaffen Wasserschlauch los und schob den Gurt über die Schulter, um eine Ausrede parat zu haben, falls irgend jemand sie anrufen sollte.
Vorsichtig stieg sie über die Körper, versuchte zu vermeiden, auf ausgestreckte Arme oder Beine zu treten … Oder, schlimmer, auf einen halbverdeckten Bauch … Aleytys suchte sich ihren Weg am Rande der Horde entlang. Mehrere Wächter traten an den Schwerterwall, standen da und beobachteten sie, aber keiner von ihnen sagte irgend etwas. Abgelenkt, trat Aleytys plötzlich auf einen Haufen Arme und Beine. Torkelnd mit wild herumfliegenden Armen und Beinen, fand sie ihr Gleichgewicht wieder, richtete sich auf, bemüht, die Übelkeit zu unterdrücken, die an ihr zerrte.
Keiner der Schläfer bewegte sich. Sie hätten tot sein können, wären da nicht gelegentliche Schnarcher gewesen oder das Heben und Senken von Brustkästen, von veränderlichem Schimmer gezeichnet, wo das Mondlicht über straffe Haut glitt.
Sie füllte den Wasserschlauch und kehrte zurück, zog einen weiten Kreis, um die Hauptmasse der Schläfer zu meiden. Während sie sich auf den Sitz hochzog, starrte sie unwillkürlich zum Wagen des Meisters hinüber.
„Ich kann es schaffen“, murmelte sie. Sie tippte gegen die Schläfe und lächelte verbissen, als das Diadem seine Antwort klimperte. „Wir können es schaffen.“ Sie hob ihren Kopf und lachte, Blicke aus strahlenden Augen maßen die Wächter und glitten über sie hinweg. „Ihr mächtigen Kämpfer. Wir werden durch eure Reihen hindurchgelangen.“
10
Aleytys erwachte; ihr Magen knurrte. Aber sie vergaß ihren Hunger augenblicklich, als sie das Schütteln und Rütteln des fahrenden Wohnwagens registrierte. Sie purzelte von der Koje und stieß den Kopf durch die Planen.
Die Sonne kroch gerade über den östlichen Horizont. Die Luft war kalt und feucht von einer heiteren Frische, die den Schlaf aus dem Verstand hinaustrieb. Die falschen Gewitterwolken entwirrten sich am Himmel und machten sich daran, über das muntere Blau auszuschwärmen. Die Felder rings um den Wohnwagen herum waren leer, das Vieh davongetrieben, bevor es von der Horde geschlachtet werden konnte. Aleytys seufzte erleichtert. Die Warnung war weitergegeben worden. Sie schob sich durch die Planen und kletterte auf den Sitz neben Maissa; mit den Blicken suchte sie den Horizont vor der Horde ab. Nichts von einem Minarett zu sehen. Noch nicht. Es war noch Zeit. Sie stand vorsichtig auf und kehrte in den Wohnwagen zurück.
Sharl erwachte und verlangte nach ihrer Aufmerksamkeit. Sie zog ihn um, kramte das getrocknete Fleisch wieder heraus, fand einen versteckten Vorrat getrockneter Huahua und nahm eine Handvoll von dem runzeligen, purpurbraunen Obst an sich. Sie ließ die gesammelten Schätze auf die Matratze fallen, dann hob sie Sharl aus seinem Nest, kletterte mit ihm auf die Koje und machte es sich bequem, indem sie sich mit dem Rücken gegen die Wohnwagenwand lehnte.
Während Sharl gierig an ihren Brüsten saugte, kaute Aleytys das steinharte Fleisch und dazu das eher zu süße Obst; verspürte einen Rest der Zufriedenheit, die die zurückliegende Nacht hervorgerufen hatte. Nach einer Weile kicherte sie, verstummte, kicherte wieder.
„Sharl-mi, schau uns an. Dem Madar sei Dank, daß du zu jung bist, um zu begreifen, was hier vorgeht. Ich, ich müßte mich abgrundtief gesunken fühlen … Aber ich tu’s nicht. Weißt du, im Moment kann ich nicht einmal Trauer für die vielen Getöteten empfinden, als seien sie zu Recht gestorben, aber nicht real … Gespenster … Oh, verflixt.“ Sie hob Sharl an die Schulter und fing an, das Bäuerchen aus ihm herauszuklopfen. „Nur noch eine kleine Weile … Morgen abend, denke ich. Dann werden wir es tun und uns auf den Weg machen. Auf unseren Weg.“
Sie legte Sharl in seine Decken zurück, dann streckte sie sich auf der Koje aus. „Miks … Im Osten … Du hast gesagt, daß du da sein wirst …“ Sie schloß die Augen und ließ den empathischen Sinn immer weiter ausströmen, um die frisch-grüne Berührung, wie die Farbe tief im Herzen des Wintereises, zu suchen.
Glühende rote Flecken kreisten im Osten, heiß vor Haß, heiß vor Zorn, heiß vor Ohnmacht. Sie tastete weiter … Weiter … Seufzte vor Erleichterung … Kühles, blasses, minzgrünes Leuchten … Auf einem Hügel … Wartend. Sie öffnete die Augen, lächelte, wußte, daß sie ihn finden konnte, wann immer sie wollte.
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