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Lamento

Titel: Lamento
Autoren: Maggie Stiefvater
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meiner Eistüte. Eine Zeitlang aßen wir schweigend unser Eis. »Wenn ich dich immer noch fasziniere, darfst du mich eine Weile studieren. Aber ich bin keine ›Übung‹«, sagte ich schließlich.
    »Danke.« Er kramte seinen Schlüsselbund aus der hinterenHosentasche, legte ihn sich aufs Bein und aß die letzten Bissen Waffel.
    »Ist da ein Schlüssel für jedes Geheimnis dran?«, fragte ich spontan, fürchtete jedoch im nächsten Moment, ich hätte unsere stillschweigende Übereinkunft gebrochen, und er würde in einer Rauchwolke verpuffen.
    Aber die Frage schien ihn nicht zu stören. Er lächelte nur andeutungsweise und erwiderte: »Möglicherweise. Wie viele Schlüssel hast du denn?«
    »Zwei.«
    »Und hast du auch so viele Geheimnisse?«
    Ich dachte darüber nach. Eins – das Kleeblatt auf dem Nachttisch. Zwei – meine Gefühle für Luke. »Ja.«
    Er spielte mit den Schlüsseln herum. »Hättest du gern noch eines?«
    Ich antwortete nicht, aber ich sah zu, wie er einen Schlüssel von dem übervollen Ring zog. Es war ein kleiner, schwerer, altmodischer Schlüssel mit einem Rostfleck auf einer Seite. Er blickte sich um, als könnte sich jemand dafür interessieren, was wir hier taten, und drückte mir den eisernen Schlüssel in die Hand. Mit den Lippen ganz dicht an meinem Ohr, so dass ich seinen Atem heißer als den Sommertag spürte, flüsterte er: »Hier hast du noch ein Geheimnis: Ich darf eigentlich nicht von dir fasziniert sein.«
    Seine Lippen formten sich beinahe so, als wollte er mich küssen. Dann rückte er hastig ab und stand auf. Mir war schwindelig, und ich musste für einen Moment die Augen schließen. Eilig steckte ich den Schlüssel in meine Hosentasche.
    Luke streckte eine Hand aus, zog mich auf die Füße und führte mich um das Auto herum, den Blick in die Ferne gerichtet. Ehe er die Beifahrertür hinter mir schloss, roch ich für den Bruchteil einer Sekunde wieder diesen Kräuterduft, der soganz anders war als Lukes Geruch oder der Asphaltgestank auf Daves Parkplatz. In diesem Moment begriff ich, dass ich tatsächlich ein drittes Geheimnis zu dem Schlüssel hatte: Eine Gefahr zog um mich herauf. Doch ich fürchtete mich nicht.
     
    »Oh, Granna ist da.« Ich spähte übers Armaturenbrett, als Luke in der Einfahrt hielt. Der weiße Ford meiner Großmutter leuchtete so grell in der Mittagssonne, dass er mich blendete. »Mom muss sie zu meiner Geburtstagsfeier eingeladen haben.«
    »Du hast Geburtstag?« Luke stellte den Motor ab. »Heute?«
    »Eigentlich ja gestern, aber Kuchen und all das gibt es heute«, erwiderte ich, darauf bedacht, nicht allzu hoffnungsvoll zu klingen. »Möchtest du zum Essen bleiben?«
    »Hm.« Luke stieg aus, kam um den Wagen herum und hielt mir die Tür auf. »Eigentlich dürfte ich nicht. Aber das klingt wahnsinnig interessant. Kommt deine schreckliche Tante auch?«
    Ich runzelte die Stirn. »Sie ist schon da. Sie fährt erst nächste Woche nach Hause zurück. Wenn ihre Konzerttournee anfängt.«
    »Sehr schick.«
    Ich gab ein zustimmendes Brummen von mir und drehte mich um, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm: Granna stieg aus ihrem Auto. Sie sah mich und lächelte, verschwand dann aber wieder in ihrem Wagen.
    Luke blickte verwundert drein. »Handtasche?«
    »Granna trägt keine Handtaschen. Sie gehört nicht zu dieser Sorte Großmutter. Vermutlich ein Geschenk.«
    Und tatsächlich – sie tauchte mit einem winzigen, eingewickelten Päckchen in der einen und einem riesigen Geschenkpaketin der anderen Hand wieder auf. »Würdest du mir eines davon abnehmen, Deirdre?«
    Eilig stieg ich aus und lief zu ihr, um ihr das große Paket abzunehmen. Ich spürte, wie Luke hinter mir unruhig auf und ab ging.
    »Das ist Luke, Granna.« Ich trat beiseite. »Er hat gestern bei dem Wettbewerb mitgespielt.«
    Luke blieb stehen und streckte förmlich die Hand aus. »Guten Tag.«
    Granna überließ ihm ihre Rechte, und er küsste sie – eine Geste, die merkwürdigerweise völlig normal und angemessen wirkte.
    »Sehen Sie das hier, junger Mann?« Granna hob die linke Hand, an deren noch immer kräftigem Ringfinger ein matter silberfarbener Ring und ein goldener Ehering steckten.
    Luke lächelte schwach. »Ja, Ma’am.«
    Ich beobachtete die beiden stirnrunzelnd.
    Granna hielt Luke das kleine Päckchen vors Gesicht und fragte mit leiser Stimme: »Was sie wohl von mir zum Geburtstag bekommt, was meinen Sie, hm? Und was haben Sie schon wieder hier zu suchen?«
    Ich sah
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