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Lamento

Titel: Lamento
Autoren: Maggie Stiefvater
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wenn ich diese seltsamen Gefühle bekomme, und das da war schon Gletschereis auf der Kälteskala. Mach das noch einmal. Du wirst schon sehen. Hier an meinem Bein, wo kein Wind hinkommt.«
    Ich hob das Kleeblatt auf und legte es in den Windschatten seines Beins, dann hielt ich erneut die hohle Hand auf. »Komm her, Kleeblatt.« Das Kleeblatt und einige andere Blätter raschelten und hüpften in meine Hand.
    »Telekinese.« James’ Stimme war so leise wie das Blätterrascheln, und als ich ihn ansah, bemerkte ich die Gänsehaut an seinen gebräunten Beinen. »Da kommt einem die Welt doch gleich viel interessanter vor.«
    Jedenfalls sehr viel weniger gewöhnlich.

Vier
     
     
     
     
     
    Dienstag. Mittwoch. Die nächsten beiden Tage krochen im Schneckentempo dahin. James kam vorbei, aber in Wahrheit wollte ich jemand anderen sehen. Ich konnte vielleicht Löffel bewegen, ohne sie zu berühren, und Kleeblätter wie kleine Schiffe über meinen Nachttisch segeln lassen, aber ich konnte nicht zurückholen, was Granna verjagt hatte. Außerdem ließ sich die leise Stimme in meinem Innern nicht zum Schweigen bringen, die flüsterte, dass er sich ziemlich leicht hatte vertreiben lassen.
    »Deirdre, du hast seit Tagen nicht mehr geübt.« Mom öffnete die Tür zu meinem Zimmer und runzelte die Stirn. Ich lag auf dem Rücken und starrte an die Decke, während die Techno-CD, die James mir zum Geburtstag geschenkt hatte, alles im Raum im Rhythmus der Bässe erzittern ließ. Mom schaltete die Stereoanlage aus. »Ich wusste gar nicht, dass du dieses Zeug magst.«
    »Jetzt schon.« Das hörte sich aufsässig an, aber es stimmtetatsächlich. Techno hatte ich mir noch nie angehört, aber ich hatte eine Schwäche für gute Musik jeglicher Art. Und die hämmernde Monotonie passte genau zu dem, was in meinem Kopf vorging. Zeit, die ohne irgendeinen Grund verstrich.
    Mom stieß die Tür vollends auf. »Sei doch nicht so miesepetrig. Geh üben. Sieh zu, dass du mal aus diesem Zimmer rauskommst. Du machst mich ganz nervös, wenn du nichts
tust

    »Also gut. Ich übe. Aber draußen.«
    »Es ist doch schon fast dunkel.«
    Ich stand vom Bett auf. Ich wollte nicht drinnen sitzen und üben wie an jedem stinknormalen Abend. »Ist aber kühler.«
    Sie ging mit nach unten, sah zu, wie ich meine Harfe holte, und folgte mir zur Hintertür. Plötzlich bückte sie sich und hob etwas vom Küchenboden auf. »Deirdre, ich habe dir doch gesagt, dass du die Dinger in einem Buch pressen sollst, wenn du sie behalten möchtest. Ich habe es satt, sie ständig aufzuheben.« Sie drückte mir ein vierblättriges Kleeblatt in die Hand.
    Schlangen vertreiben. Skorpionstiche heilen. Feen sehen.
    In einem Anfall von Rebellion nahm ich Grannas eisernen Ring ab und legte ihn auf die Küchentheke, ehe ich nach draußen ging. Vielleicht
wollte
ich böse übernatürliche Wesen heute Abend nicht verjagt haben. Vielleicht gehörte derjenige, den ich so gern sehen wollte, ja ebenfalls dazu.
    Draußen empfing mich das satte Gold und Tiefblau des Zwielichts. Lange Schatten in Form gespenstischer Bäume lagen über dem Garten. Glühwürmchen leuchteten im hohen Gras, und eine Trauertaube rief leise und traurig und schön. Ich setzte mich in die Mulde am Fuß eines Baumstamms und lehnte die Harfe an meine Schulter. Ich wusste nicht, was ich spielen sollte, also entlockte ich den Saiten nur eine kleine, einsame Melodie. Eigentlich hätte ich ja etwas mit dem Titel
Ich bin eine schmachtende Kuh
spielen sollen.
    Geheimnisvoll. Außergewöhnlich. Das war es, was ich wollte. Ich begann mit einem langsamen Volkslied, »The Maids of Mitchelltown«, das mir vielversprechend mysteriös erschien. Der Wind ließ das Laub an den Bäumen rascheln und duftete nach gemähtem Gras, Blumen und Thymian.
    Meine Finger erstarrten, und ich hob den Kopf und schnupperte erneut. Vielleicht hatte ich mir den Duft nur eingebildet. Aber nein, es roch zweifellos nach Thymian. Und das war nicht nur ein Hauch, der Geruch wurde stärker. Ich spähte in die Schatten um mich herum und versuchte herauszufinden, aus welcher Richtung er kam, aber es gelang mir nicht.
    Ein Schatten huschte über einen breiten Streifen Abendsonne, und ich wandte abrupt den Kopf. Da war nichts. Dann entdeckte ich zwischen zwei Eichen am Rand des Gartens eine Gestalt. Ein Gesicht blickte mich an und lächelte – rothaarig, sommersprossig, bis zum Himmel nach Thymian stinkend.
    Der Typ vom Empfang. Ich blinzelte. Augenblicke später
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