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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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schmalen Gesicht vertrieben, so dass er jung und frisch aussah – beinahe wirklich wie ein Highschool-Schüler.An seinem erhobenen rechten Oberarm schimmerte ein Reif aus gehämmertem Gold, der halb unter seinem Ärmel verborgen war. Ich fragte mich, warum er mir nicht schon früher aufgefallen war.
    Ich schaute nach unten. Die Türen waren nicht verriegelt. Als ich die Beifahrertür aufriss, schrak Luke hoch, und eine Hand fuhr zu seinem Knöchel.
    »Du solltest immer abschließen«, sagte ich. »Man kann nie wissen, was für schräge Typen sonst einsteigen.«
    Er sah mich blinzelnd an, ehe er die Hand von seinem Knöchel löste und den Kopf mit geschlossenen Augen zurückfallen ließ.
    Ich schloss die Tür hinter mir und beobachtete, wie Rye Luke finster anstarrte und sich dann an den Straßenrand zurückzog. »Ich habe auch nicht in meinem Zimmer geschlafen.«
    »Man schläft nicht so leicht ein, wenn man beobachtet wird, nicht?«, erwiderte er, noch immer mit geschlossenen Augen.
    Ich hätte ihn gern gefragt, warum
sie
auch ihn beobachten sollten, fürchtete aber, er würde nicht antworten. Ich hätte ihn gern gefragt, warum er einen Steinwurf weit von meinem Haus in seinem Auto übernachtete, fürchtete aber, er
würde
antworten. Ich dachte an seine Hand, die zum Knöchel gefahren war, und überlegte, ob er etwas unter dem Hosenbein verbarg, etwas Tödlicheres als den goldenen Armreif unter seinem Hemdsärmel. Mit einem Mal kamen mir alle möglichen Zweifel an ihm, doch dann schlug er die hellblauen Augen auf und lächelte mich an. Augenblicklich waren die Zweifel weggefegt wie Spinnweben von einem Kellerfenster.
    »Wie schön, morgens als Erstes dein Gesicht zu sehen.«
    Schlagartig meldete sich das Hochgefühl zurück, als wäre es keine Sekunde verblasst. Ich grinste. »Ich weiß.« Warumverwandelte ich mich in dieses seltsame, unbeschwerte Wesen, wenn ich mit ihm zusammen war?
    Luke lachte. »Dann sing mir etwas vor, meine kleine Schönheit.«
    Ohne jede Scham gab ich zur Melodie von »The Handsome Cabin Boy« ein spontan erdachtes Lied über Spaziergänge im Morgentau ohne Schuhe und fremde Männer, die in Autos schliefen, zum Besten. Als ich sah, wie sich seine Miene erhellte, fügte ich noch einen Vers hinzu über die Gefahren von Kuhweiden und Männern, die sich in deren Nähe aufhielten, wobei sich »Einladen« und »Kuhfladen« ganz vortrefflich reimten.
    »Du bist ja heute gut gelaunt.« Er richtete sich auf, fuhr sich mit den Händen durchs Haar und schaute in den Rückspiegel. »Wie peinlich, dass du mich so ohne Make-up siehst.«
    Jetzt war es an mir, zu lachen. »Du siehst grauenhaft aus. Es ist mir ein Rätsel, wie du morgens in den Spiegel schauen kannst.« Mit spitzen Fingern hob ich den Rand seines Ärmels an und enthüllte den goldenen Armreif in Form eines Torques, der zu zahllosen Facetten gehämmert war. »Den habe ich noch nie an dir gesehen.«
    Er wandte den Blick ab und sagte mit merkwürdig ausdrucksloser Stimme: »Er war schon immer da.«
    Ich rieb mit der Fingerspitze über eine der gehämmerten Facetten und bemerkte, dass die Haut am Rand glatte Schwielen hatte und der Umriss des Reifs sich in den darunterliegenden Muskel eingeprägt hatte. Er musste schon sehr lange dort sein. Ich betrachtete ihn eingehender, als nötig gewesen wäre, weil ich einen Vorwand haben wollte, über seine Haut zu streichen. Dabei fiel mir noch etwas anderes auf: blasse, leicht glänzende Male, die senkrecht zum Armreif verliefen. Narben. Im Geiste rekonstruierte ich das Dutzend tiefer Schnittwunden, diesich über seinen gesamten Oberarm zogen – klaffende, tiefe Wunden, die seinen Bizeps zu schmalen Streifen zerfetzt haben mussten, nur zusammengehalten von diesem Armreif.
    Ich zeichnete eine der Narben mit dem Finger nach. »Was ist das?«
    Luke sah mich an. »Hast du mein Geheimnis noch?«, fragte er statt einer Antwort.
    Einen Augenblick lang wusste ich nicht, was er meinte. Dann deutete ich auf die Kette an meinem Hals und hob sie an, um ihm den Schlüssel zu zeigen. »Eines davon, ja. Kann ich noch eines haben?«
    Seine Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln. »Klar. Ich bin immer noch von dir fasziniert.«
    »Das ist kein Geheimnis.«
    »Mag sein, aber in Anbetracht der Umstände ist es trotzdem ziemlich erstaunlich.«
    Ich schmollte. »Ich kann die Umstände nicht betrachten, weil ich die meisten gar nicht kenne.«
    »Schmoll nicht, sondern sing mir lieber noch etwas vor. Ein
richtiges
Lied.

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