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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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mich auf ihre Betonfrisur übergeben, so dass sie wie ein Soufflé in sich zusammenfiel.
    »Deine Mutter hat mir schon alles erklärt«, sagte Maryann und ließ ihre unnatürlich ebenmäßigen Zähne aufblitzen. »Die Toilette ist gleich da drüben.«
    Hin- und hergerissen zwischen Dankbarkeit und Demütigung platzte ich durch die Tür zu der winzigen, antiken Toilette. Ich stieß das Kunstblumen-Arrangement beiseite, das ohnehin viel zu groß für diesen kleinen Raum war, und übergab mich prompt. Danach fühlte sich mein Magen sofort besser an, und zurück blieb nur diese leichte Übelkeit, die ich schon die ganze Zeit spürte, seit ich Lukes Gespräch mit dem verdammten Kaninchen belauscht hatte.
    Ich schrubbte mir die Hände mit der intensiv duftenden Lavendelseife und spülte sie mit reichlich Wasser ab. Etwas Festes, Schweres glitt mir durch die Finger, und ehe ich begriff, was das war, sah ich Grannas Ring kreiselnd im Abfluss verschwinden.
    Ich fluchte und schob den Zeigefinger hinein, aber es war ein altes Waschbecken mit so einem offenen Abfluss, der nur darauf wartete, persönliche Gegenstände zu verschlucken. Mein Ring war unerreichbar in der Rohrleitung verschwunden. Und
natürlich
musste meine Großmutter mich ausgerechnet heute abholen. Sie würde an die Decke gehen.
    Toll, ganz toll.
    Ich kehrte in den Vorraum zurück und besprach mit Maryann, wann genau ich während der Zeremonie spielen sollte. Da ich mich ja bereits übergeben hatte, lief mein Auftritt tadellos, und eine halbe Stunde später hielt ich einen frischen, leuchtend weißen Scheck über 175 Dollar in der Hand.
    Mich mit Leuten zu unterhalten, die ich nicht kenne und auch nie wiedersehen werde, gehört nicht zu meinen Stärken, also verzog ich mich nach draußen und rief meine Großmutter an. »Granna? Mom hat gesagt, du würdest mich abholen.«
    »Du bist schon fertig?«
    »Ja.«
    »Dann hast du einen besseren Stundensatz als mein Arzt.«Ich hörte ein Rumpeln auf Großmutters Seite der Verbindung.
    »Ja, kann sein. Was machst du denn gerade?«
    »Ich, äh …« – ein dumpfer Schlag – »bemale ein Möbelstück, das nicht bemalt werden will. Das kann warten. Trotzdem werde ich eine halbe Stunde brauchen.«
    Ich sah zur Kirche. Hier draußen auf dem Bürgersteig war es heiß, aber im Schatten der Birken sollte es erträglich sein. Natürlich hätte ich auch drinnen in der klimatisierten Kühle warten können, aber dann hätte ich Konversation machen müssen. Ich versicherte meiner Großmutter, es sei kein Problem, eine Weile zu warten, und ging zu den Bäumen hinüber.
    Wie ich vermutet hatte, war die Hitze hier nicht ganz so schlimm. Es war heiß, aber auszuhalten. Ich lehnte die Harfe an einen Baumstamm und ging ein Stück weiter in das Wäldchen hinein. Die Birken waren in ordentlichen Reihen gepflanzt, allesamt schön und gerade gewachsen, und ihr Blätterdach war so üppig, dass ich nicht erkennen konnte, wo ein Baum endete und der nächste begann. Das Gras darunter war ebenfalls schön grün. Es sah aus wie aus einem Traum.
    Ich konnte mich nicht hinsetzen, weil mein Oma-Kleid sonst Grasflecken bekommen hätte. Also blieb ich neben einer Birke stehen und betrachtete die Rinde, die sich schälte und darunter glatte Baumhaut zum Vorschein brachte. Hübsch, aber es stank.
    Ich schnupperte. Was
stank
denn hier so? Der Geruch war irgendwie süßlich – faulig. Wie gemähter Klee, der liegen geblieben und verrottet war. Und er kam nicht von den Bäumen.
    Drei Meter entfernt von mir sah ich eine Bewegung aufblitzen und wieder verschwinden, als fehlte ein Stück von einer Filmrolle. Der faulige Geruch kam und ging mit dem Schemen. Groß. Schwarz.
    Ich trat zurück, so dass sich der Baum zwischen mir und diesem Ding befand. Ich war nicht so dumm, es für Einbildung zu halten. Nicht mehr.
Zack
. Die Bewegung flackerte erneut auf, diesmal keine zwei Meter von mir entfernt – und hinterließ ein Negativbild, als hätte ich in die Sonne geschaut und dann die Augen geschlossen. Das Bild zeigte ein großes, dunkles Tier, das mir mindestens bis zur Taille reichte, den Kopf in den Nacken gelegt und den langgestreckten Körper am Boden geduckt. Zum Sprung –
    Der Angriff kam von hinten und mit solcher Wucht, dass mir die Luft wegblieb. Meine Schulter krachte auf den Boden, doch ich spürte keinen Schmerz. Ich konnte an nichts anderes denken als an das erstickende Gewicht auf meiner Brust. Ich fragte mich, ob ich je wieder Luft bekommen würde.

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