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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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er seltsam abwesend und fremd aus.
    Ich streckte die Hand aus, und ohne den Blick von der Straße zu wenden, verschränkte er seine Finger mit meinen.

Sieben
     
     
     
     
     
    In dieser Nacht schlief ich auf der Couch. Die Vorstellung, mein Zimmer mit irgendeinem gesichtslosen Feen-Ding zu teilen, war nicht gerade angenehm. Obwohl ich wusste, dass das Ding ebenso gut unten im Wohnzimmer gesichtslos sein konnte, schlief ich auf der Couch trotzdem besser.
    Als ich aufwachte, war ich in absoluter Hochstimmung. Gestern Abend war ich von dem Erlebnis in der Kirche und der Vorstellung, von Feen verfolgt zu werden, völlig erledigt gewesen. Aber heute Morgen, ausgeruht und im fahlen Licht, das durch die zarten weißen Vorhänge fiel, fühlte ich mich phantastisch. Alles Negative erschien mir weit weg, so dass ich mir ungeniert Lukes Küsse im Geiste immer wieder vorspielen konnte.
    Oben im Schlafzimmer meiner Eltern hörte ich ein leises Poltern. Mom war wach. Ich hatte ihr Gesicht gesehen, als Luke mich um elf Uhr abends nach Hause gebracht und sich dafür entschuldigt hatte, dass es so spät geworden war. Ich warnicht scharf auf die anstehende Standpauke. Weder jetzt noch sonst irgendwann.
    »Rye«, flüsterte ich. Er blickte von seinem Posten vor dem Fußende des Sofas auf. »Gassi?«
    Schwanzwedelnd sprang er auf. Ich folgte ihm in die Küche, wischte mir den Schlaf aus den Augen und band mir das Haar zum gewohnten losen Pferdeschwanz zusammen. Dann holte ich mir eine Jeans aus der Waschküche, krempelte die Hosenbeine hoch, damit sie im Gras nicht nass wurden, und trat hinaus in den Morgen.
    Die Sonne sah einfach herrlich aus und strahlte sanft durch den leichten Morgennebel. Es war noch kühl – Tau hing an den Spinnennetzen, und es roch nach frisch gemähtem Gras. Alles war wunderschön.
    Er hat mich geküsst. Er hat mich geküsst.
    Rye, der von meiner Euphorie nichts mitbekam, lief an mir vorbei und sprang mit hoch erhobenem Schwanz durch das feuchte Gras.
    Nicht da entlang, Feenhund. Hier. Die Straße runter.
    Er blieb stehen und spitzte die Ohren, als hätte ich laut gesprochen. Dann drehte er um und trottete auf die Straße zu. Dort hielt er inne und wartete auf mich.
    Phantastisch. Alles war absolut phantastisch. Ich konnte Rye mit meinen Gedanken rufen, und
Luke hatte mich geküsst
. Gemeinsam traten wir auf die Straße. Die meiste Zeit hielt ich mich am Straßenrand, obwohl uns so früh am Morgen wahrscheinlich kein Auto begegnen würde.
    Meine nackten Füße machten auf dem Asphalt kein Geräusch. Ich führte Rye zu einer noch schmaleren Landstraße in der Nähe unseres Hauses. Gemeinsam trotteten wir mitten auf der Straße entlang und sahen zu, wie der Nebel waberte und langsam über die Weide rechts von uns zog. Fasziniert beobachteteich ein schneeweißes Kaninchen, das mich anstarrte. Seine völlig farblosen Ohren waren gespitzt und reglos. Abgesehen von dem Kaninchen war ich ganz allein mit Rye und meinen Gedanken.
    Rye war also ein Feenhund. Und Feen wollten mich entführen – irgendwie sogar fast schmeichelhaft. Es war schön, zur Abwechslung einmal bemerkt zu werden.
    Aber wie passte Luke in all das hinein? Und warum wusste er überhaupt von den Feen? Wollten sie auch ihn mitnehmen? Und wieso hatte Granna so mit ihm gesprochen? Am meisten wunderte ich mich nicht über die Feindseligkeit in ihrer Stimme, sondern über die
Vertrautheit
. Ebenso wie Mr. Hill, der Orchesterleiter, ihn bei dem Wettbewerb scheinbar erkannt hatte. Mein Verstand wich dem Thema vorsichtshalber aus. Der Gedanke, wie wenig ich über Luke wusste, störte meinen morgendlichen Glückstaumel empfindlich. Ich wusste, dass es mich sehr wohl interessieren sollte, wer er war und was er war, wenn wir gerade nicht zusammen waren, aber ich wollte mich nicht damit befassen. Ich wollte es ganz einfach haben.
    Im tiefsten Inneren wusste ich, dass er kein Highschool-Schüler war. Aber war es denn so verkehrt, dass ich gerade das so reizvoll fand?
    In diesem Moment blieb Rye knurrend stehen, und ich folgte seinem Blick. Vor uns, in der Einmündung eines kaum benutzten Feldwegs, stand ein vertrauter, zerbeulter Audi. Mein Herz machte einen Satz –
Luke!
–, und mein Hirn verarbeitete die Information eine Sekunde später.
Was macht der denn hier?
    Leise näherte ich mich dem Auto und sah Luke halb liegend auf dem Fahrersitz. Er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und die Augen geschlossen. Der Schlaf hatte alle Sorgen aus seinem

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