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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Zug um seinen Mund hätte mir das Herz gebrochen, wenn ich das viele Blut an seinen Händen hätte vergessen können.
    Ich stand ohne seine Hilfe auf und reckte das Kinn. Wenn ich eines von meiner Mutter gelernt hatte, dann dies: Auszusehen, als wäre alles in bester Ordnung, obwohl man sich grauenhaft fühlte. Obwohl man sicher war, dass
nichts
jemals wieder gut werden würde. Mit genau diesem Gesichtsausdruck wandte ich mich ihm jetzt zu, alle Gefühle sorgsam weggeschlossen. »Gut, gehen wir.«
    Ich hätte mich fürchten sollen. Aus seinen Erinnerungen wusste ich, dass er mich töten konnte, ehe ich überhaupt merkte, dass ich davonlaufen sollte. Ich wusste sogar, wo dieser bösartige Dolch steckte, auch jetzt – in dem Futteral unter seiner Jeans. Aber meine Angst war zusammen mit allen anderen Gefühlen weggesperrt, und diese Schachtel würde ich wohl eine ganze Weile nicht öffnen. Vielleicht nie mehr.
    Seufzend hob Luke die Nägel vom Eingang des Monuments auf. »Falls du mir glauben kannst – ich werde dir nichts tun. Ich kann nicht.«
    Ich musterte ihn frostig. »So, wie du mir auch sonst nichts über dich sagen ›kannst‹?«
    Er schüttelte den Kopf, ohne mich anzuschauen. Sein Blick suchte den Friedhof ab, obwohl im dichten Nebel kaum etwas zu erkennen war. »Nicht da entlang. Komm mit. Ehe
sie
herumstreifen.«
    Ein kleiner Schauer entwischte meiner Schachtel der Emotionen in dem Augenblick, als er
»sie«
sagte, dann war er verflogen. Vermutlich war es dumm von mir, mich vor
ihnen
zu fürchten und nicht vor ihm, aber ich war sicher, dass
sie
mir Böses wollten. Was ich von Luke immer noch nicht glauben konnte. Ich folgte ihm zwischen den Gräbern hindurch. Lautloswie zwei Geister bewegten wir uns durch den Dunst. Der Nebel verwirrte mich ein bisschen, aber ich war ziemlich sicher, dass dies nicht der Weg war, auf dem wir gekommen waren.
    »Warum hier entlang?«, flüsterte ich.
    Lukes Blick huschte an mir vorbei. »Wir klettern über den Zaun.
Sie
erwarten, dass wir durchs Tor kommen.« Sein Blick fiel auf den Schlüssel, der immer noch an meinem Hals hing, dann ging er weiter. Der wabernde Nebel verbarg sogar die mächtigen Bäume, bis wir direkt davorstanden. Auch den eisernen Zaun bemerkte ich erst, als ich dicht genug davorstand, um ihn zu berühren.
    Luke packte die oberste hüfthohe Stange und sprang darüber hinweg, ehe er mir wieder die Hand hinstreckte.
    Ohne ihn zu berühren, trat ich auf die unterste Querstange und kletterte über den Zaun. Er ließ die Hand wieder sinken und ging voran. Ich brauchte ein paar Augenblicke, um zu erkennen, wo wir waren – am Ende der kleinen Straße, an der ich sein geparktes Auto gefunden hatte. Wir waren nur ein paar Minuten von meinem Haus entfernt.
    Dann roch ich es. Ein vertrauter, würziger, süßer Geruch mischte sich kaum merklich in den Duft nach frischgemähtem Gras. Und ich hörte etwas: Laute, beinahe wie Musik, fügten sich zu Liedfetzen zusammen, irgendwo in einem Teil meines Gehirns, den ich anscheinend nie benutzte.
    Ich
spürte
, wie Luke sich in Bewegung setzte, noch ehe er mich fest am Arm packte und von der Straße zog.
Sollte ich jetzt anfangen, Angst vor ihm zu haben?
    Wir waren nur ein paar Schritte weit gekommen, als ich eine angenehme, leicht singende Stimme hörte. »Und ich dachte schon, ich wäre die Einzige, die nicht schlafen kann.«
    Im ersten Moment erkannte ich die Stimme nicht, aber Luke wandte sich steif um. Ich sah eine große, schneeweißeGestalt aus dem Nebel auf uns zukommen. Sie wirkte umso beängstigender, weil ich sie aus einem ganz normalen Umfeld kannte – und sie
nicht hier sein sollte
. Eleanor kam genau in der Mitte der Straße auf uns zu und schien mit jedem Schritt weiter Gestalt anzunehmen. Ich konnte nicht erkennen, ob es am Nebel lag oder ob sie sich tatsächlich hier auf der Straße materialisierte. Luke packte mich noch fester und schob mich ein Stück zur Seite, so dass er zwischen mir und Eleanor stand.
    Beiläufig, als versuche er nicht unübersehbar, mich vor ihr zu schützen, fragte er: »Was willst du?«
    Eleanor lächelte und sah dabei so schön aus, dass es fast schmerzte. »Könnte dies nicht einfach eine zufällige Begegnung sein?« Sie griff in die Falten ihres zarten weißen Gewandes und holte eine lange, perlweiße Klinge mit einem runden, schmucklosen Griff hervor.
    »Könnte sein«, knurrte Luke. »Was zum Teufel willst du?«
    Die Worte klangen irgendwie falsch aus seinem Mund.

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