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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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mich. »Hallo? Bist du das, Dee?«
    Dann fiel der Groschen. Diese Stimme hatte ich schon eine ganze Weile nicht mehr gehört: Es war Peter, James’ älterer Bruder. »Peter? Ja, ich bin’s. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass
du
mich anrufst.«
    Eine Pause entstand. »Ich habe nicht angerufen. Deine Tante hat
mich
angerufen.«
    Stirnrunzelnd blickte ich auf die geschlossene Tür und fragte mich, ob ich Delia mit dem Ohr am Schlüsselloch vorfinden würde, wenn ich sie jetzt aufriss. »Okay … äh … Das ist ja merkwürdig. Woher hatte sie denn deine Nummer?«
    »Ich bin nicht in Kalifornien, sondern bei meinen Eltern.«
    An der Art, wie er das sagte, stimmte etwas nicht, und mir fiel auf, dass ich bisher nicht genug auf den Klang seiner Stimme geachtet hatte. »Ist etwas nicht in Ordnung? Seit wann bist du hier?«
    »Ich bin gestern Nacht von Kalifornien hergeflogen. O Gott, Dee, du weißt es noch gar nicht? Mom und Dad haben dich nicht angerufen?«
    Manchmal weiß ich, was jemand sagen wird, noch ehe er es ausspricht. Dies war einer dieser Momente, und ich sank auf die Bettkante und hielt mich an der Bettdecke fest. Ich wusste, dass ich bei dem, was ich gleich hören würde, besser sitzen sollte. »Was weiß ich nicht?«
    »James …« Das Wort klang erstickt. Peter hielt inne, um sich zu sammeln, und als er fortfuhr, klang seine Stimme wieder fester. »Er hatte einen Unfall auf dem Rückweg von seinem Auftritt gestern Abend. Er … äh … ist gegen einen Baum geprallt.«
    Ich senkte den Kopf, ballte die Hand zur Faust, so dass sich meine Nägel in die Handfläche bohrten, während ich mir mitder anderen das Telefon ans Ohr presste. »Wie geht es ihm?«, fragte ich.
    »Der Wagen ist völlig hinüber, Dee. Die linke Seite ist … einfach weg. Die Polizei hat gestern Nacht Hunde kommen lassen, aber sie suchen immer noch nach der – nach James.«
    Ich wusste, was er eigentlich hatte sagen wollen – »der Leiche«. Es war also richtig schlimm. Bei der Vorstellung, dass James’ Auto, sein Lebensinhalt, völlig zertrümmert war, wurde mir schlecht. Wie oft hatten wir auf einem Parkplatz in der hintersten Ecke geparkt, damit kein Nachbar beim Aussteigen den Lack beschädigte? Alles umsonst.
    Ich schluckte. »Er war also nicht im Auto?«
    Peter schwieg lange und sagte dann mit brüchiger Stimme: »Dee, sie glauben, dass er herausgekrochen ist. Dass er sich rausgeschleppt hat und dann irgendwo gestorben ist. Da ist überall Blut, ich habe es gesehen. O Gott, Dee!«
    Ich wollte etwas Tröstliches sagen, aber aus dem Mund von jemandem, der selbst Trost brauchte, hätte es falsch geklungen. »Pete – ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Ich kam mir furchtbar unzulänglich vor. Wir beide liebten James, deshalb hätte mir etwas Angemesseneres einfallen müssen.
    »Willst du mir helfen, ihn zu suchen?«, fragte ich.
    Peter zögerte. »Dee – du hast nicht gesehen, wie viel Blut – ich – o Gott.«
    »Ich kann nicht tatenlos herumsitzen, solange die Chance besteht, dass er noch lebt.«
    »Dee.« Peters Stimme zitterte, und er sprach nun in einfachen, knappen Sätzen, als wäre ich ein Kleinkind. »Er ist tot. Da war zu viel Blut. Sie suchen jetzt im Fluss. Sie haben uns nicht einmal gesagt, wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben. Er ist
tot
. Das haben sie gesagt.«
    Nein.
Nein, er war nicht tot. Auf keinen Fall. Das würde icherst glauben, wenn ich seine Leiche sah. »Dann sag mir, wo es passiert ist. Ich muss da hin.«
    »Dee, nein. Ich wünschte, ich wäre nicht dort gewesen. Diese Bilder werde ich nie wieder los.«
    »
Sag
mir, wo.«
    Ich rechnete nicht damit, dass er es mir verraten würde, aber er tat es. Ich notierte mir die Wegbeschreibung auf der Rückseite des Briefumschlags von Thornking-Ash und legte auf. Jetzt musste ich nur noch eine Möglichkeit finden, dorthin zu kommen.
    Ich wählte Lukes Nummer und wartete bis zum zwanzigsten Klingeln, ehe ich auflegte. Ein dicker Kloß steckte in meiner Kehle fest, doch als ich versuchte, ihn herunterzuschlucken, schien er immer größer zu werden. Schließlich gab ich es auf und schlüpfte in eine alte Jeans und meine ausgelatschten Doc Martens. Ich musste mich beschäftigen, mich für die Suche vorbereiten. Und die ganze Zeit staunte ich darüber, wie kalt ich innerlich war, wie berechnend. Es war, als beobachtete ich die Geschichte auf Dee-TV, eine Million Kilometer weit weg.
    Ich ging nach unten und zögerte, als ich laute Stimmen aus dem Wohnzimmer

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