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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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einen dieser Träume, bei denen ich nicht sicher war, ob ich wach war oder nicht. Es fühlte sich an, als läge ich wach im Bett. Dennoch war ich seltsam wirr, als schliefe ich, und die Stimme, die mir etwas vorsang, war vage und unwirklich.
    Die Stimme hob und senkte sich, nicht unangenehm, obwohl sie in keinem bestimmten Rhythmus sang. Der Name Deirdre bedeute »Kummer«, flüsterte sie mir zu. Diffus, wie es im Traum üblich ist, erkannte ich die Geschichte einer anderen Deirdre – einer jungen Frau, die dem König von Ulster versprochen war, aber einen anderen liebte. Deirdre floh mit dem heißen jungen Naois, ihrer wahren Liebe, womit sie den König mächtig verärgerte. Der König verfolgte die beiden, ließ Naois und seine Brüder töten und entführte Deirdre, um sie doch zur Frau zu nehmen. Deirdre, außer sich vor Trauer, stürzte sich aus seiner Kutsche, schlug mit dem Kopf auf einem Felsen auf und starb. Alle Deirdres fänden ein schlimmes Ende, sang die zarte Stimme in meinem Traum.
    Zumindest war Naois’ Deirdre klug genug, sich selbst zu töten, ehe es noch schlimmer wurde. Sämtliche alten irischen Legenden endeten in einer Tragödie – was erwartete ich also, da ich nun selbst eine erlebte?
Komm mit fort, Menschenkind
, flüsterte die Stimme mit ihrem rauchigen Timbre,
komm, fort von allem Schmerz der Welt
.
    Das war ja wie die übernatürliche Version dieser Hypnose CDs, die man sich beim Einschlafen anhören soll, um mit dem Rauchen aufzuhören.
    Ich öffnete die Augen. Ich fühlte mich entsetzlich. Mein ganzer Körper schmerzte, als hätte ich gestern Güterzüge gestemmt. Meine Großmutter war von Feen getötet worden, mein bester Freund war in mich verliebt, der Mann, den ich liebte, arbeitete als seelenloser Meuchelmörder für eine Wahnsinnige aus einer anderen Welt, und mein Kopfkissen war nass.
    Igitt. Warum ist mein Kissen nass?
Hastig setzte ich mich auf und sah mich angewidert um. Wie ekelhaft. Meine Bettdecke war nass. Mein Kopfkissen war nass. Auf meinem Nachttisch bemerkte ich runde Wassertropfen. Wo ich auch hinsah, überall duftender Tau. Mein Blick wanderte zum Fenster, das weit offen stand. Ich hielt mir die nassen Finger unter die Nase. Sie stanken nach Thymian.
    Was zum Teufel ist hier los?
Ich blickte auf Rye hinab, der seelenruhig auf dem Boden neben meinem Bett lag; die Morgensonne schien durchs Fenster herein und ließ den Tau auf seinem Fell glitzern. »Du bist mir vielleicht ein toller Wachhund. Auf wessen Seite stehst du eigentlich? Auf
ihrer
oder auf meiner?«
    Draußen hörte ich ein hohes, sehr melodisches Lachen. Ich sprang aus dem Bett und lehnte mich so hastig aus dem Fenster, dass ich gegen das Fensterbrett prallte. Die Morgensonne zwang mich, die Augen zusammenzukneifen. Ich glaubte, untermeinem Fenster einen dunklen Fleck aufflackern zu sehen, aber er war zu schnell verschwunden. Ich war nicht einmal sicher, ob er da gewesen war. Ich löste die Hände vom Fensterbrett und schaute auf sie hinab: Blütenblätter klebten an meinen Handflächen. Mohn, glaubte ich.
    Verflixte zwielichtige Feen.
Ich würde den ganzen Tag lang riechen wie ein Potpourri aus einem italienischen Restaurant. Ich zupfte mir die Blütenblätter von der Haut, warf die restlichen Blumen aus dem Fenster und betrachtete stirnrunzelnd den leeren Garten, ehe ich mein Handy vom Nachttisch nahm.
    James nahm immer noch nicht ab, und seine Mailbox war voll, also versuchte ich es bei Luke. Es klingelte und klingelte, dann ertönte ein seltsamer statischer Laut, und die Verbindung brach ab.
    Ich starrte auf das Handy in meiner Hand und bemerkte, dass sich meine Knöchel weiß unter der Haut abhoben. Es konnte tausend Gründe geben, weshalb keiner von beiden ans Telefon ging, aber bei etwa neunhundert davon drehte sich mir der Magen um.
    Beunruhigt wandte ich mich um und blickte in ein Paar riesiger grüner Augen.
    »Heilige Scheiße.«
    Ich brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass es Delias Augen waren und dass sie so riesig erschienen, weil sie so dicht vor mir waren. Ich hätte nicht gedacht, dass Delia die Fähigkeit besaß, sich vollkommen lautlos zu bewegen.
    Delia reichte mir den Festnetz-Apparat. »Telefon für dich.«
    Ich versuchte, nicht allzu hoffnungsvoll dreinzublicken, doch sie hatte sich bereits abgewandt und schloss die Tür hinter sich. Ich hob das Telefon ans Ohr. »Hallo?«
    Ich erkannte die Stimme nicht sofort, aber allein die Tatsache,dass es nicht Lukes Stimme war, deprimierte

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