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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Schatten der dichten Bäume war es fast kalt, und plötzlich sah ich, warum Sara angehalten hatte: Auf unserer Seite der nächsten Eiche war die Rinde abgeschält, und im Laub daneben lag ein Rückspiegel, den der Abschleppdienst offenbar übersehen hatte. Und dann sah ich den dunklen Fleck auf der Straße – so einen Fleck sieht man sonst, wenn ein Reh überfahren wurde und die Polizei den Kadaver weggeschafft hat. Aber dieses Blut stammte nicht von einem Reh.
    Auch die Form des Blutflecks war grausig: eine breite, verschmierte Spur, die nach Leid und Kampf aussah.
    Ich schloss die Augen und verbannte das Blut aus meinen Gedanken. Ich würde jetzt nicht an James denken, sondern tun, was getan werden musste.
    Ich trat vor den Baum und überlegte kurz, den Rückspiegel aufzuheben und mitzunehmen, verkniff es mir aber. Er war nicht wichtig. James war wichtig. Langsam ging ich weiter, durch Laub und Farne. In diesem stillen, ewigen Dämmerlicht verlor alles seine Form. Außer gedämpften Vogelstimmen im Blätterdach über mir war nichts zu hören. Ich kam nur mühsam voran – aber ich wollte keine Spur übersehen, die sich vielleicht unter den Farnwedeln verbarg.
    Etwa fünfzehn Meter von der Unfallstelle entfernt berührte mein Schuh etwas Hartes im weichen Unterholz. Ich ging in die Hocke, kniff die Augen zusammen und sah einen weißen Gegenstand in der Düsternis schimmern.
    Vorsichtig hob ich ihn auf, und mein Magen krampfte sich zusammen. Es war ein unbeschriftetes Augentropfenfläschchen. Als ich es öffnete, stieg mir der süßliche Geruch von Klee entgegen. Tausend neue Erinnerungen – Luke, der die Tropfen in seine Augen träufelte; Luke, der sie mühevoll herstellte; Luke, der sich das Fläschchen in die Tasche steckte – flackerten vor meinem geistigen Auge auf.
    Ich biss mir auf die Lippe, holte mein Handy hervor, zögerte einen Moment und wählte Lukes Nummer.
    Ich hörte den Klingelton. Und dann – ein paar Schritte entfernt – hallte ein seltsamer, moderner Laut durch die uralte Stille.
    Am liebsten hätte ich mein Handy zugeklappt und so getan, als hätte ich das nicht gehört, aber dafür war es zu spät. Ich folgte dem Klingeln und fand ein schmutziges Handy, halb begraben unter niedergetrampelten Dornenranken. Ich bückte mich, um es aufzuheben, wobei ich die roten Spritzer auf den Blättern darum herum bemerkte.
    Mir stockte der Atem, und meine Beine drohten ihren Dienst zu versagen. Ich presste mir die Hand vor den Mund, drängte meine Tränen zurück und befahl mir, stark zu bleiben und keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, doch vergebens. Erst waren es nur zwei Tränen, die mir lautlos über die Wangen kullerten, und dann drei, vier und fünf, bis sie ungehindert über mein Gesicht strömten. Ich sank in den Farn, Dornen verhakten sich in meiner Jeans, während ich auf den roten Tropfen auf dem Handy starrte. Schluchzend weinte ich um Granna, um James und um Luke.
    Als die Tränen versiegten, fiel mir auf, dass meine Glieder zitterten, wie sie es taten, wenn ich tagsüber versuchte, durch Telekinese etwas zu bewegen. Mir wurde von irgendwoher Energie abgesaugt. Hastig blickte ich auf und machte mich darauf gefasst, Eleanor vor mir zu sehen. Oder Schlimmeres.
    Aber es war Una. Sie hockte geduckt auf einem Baumstamm, nur wenige Schritte von mir entfernt, in einer geradezu grotesken Körperhaltung, und leckte sich die Finger wie eine Katze nach der Mahlzeit. Im grünen Licht des Waldes wirkte ihre blasse Haut nicht mehr ganz so grün wie gestern, dennoch wäre niemand auf die Idee gekommen, ein menschlichesWesen vor sich zu haben. Ihre bizarre Aufmachung erregte meine Aufmerksamkeit: Sie trug eine Art Kurzmantel wie einen hochgeschlossenen Uniformrock aus dem 18. Jahrhundert mit einem Dutzend Knöpfen und darunter einen mit Rüschen besetzten weißen Rock – eine merkwürdige Kombination, die nach ultraschickem Secondhand-Laden aussah und maskulin und feminin gleichermaßen wirkte.
    Beim Anblick meiner Tränen rümpfte sie die Nase. »Du tust das
schon wieder?
«
    Ich wischte mir mit der Handfläche über die Wange, dachte daran, was Luke mir gesagt hatte, und stand auf. »Ich bin gerade fertig.«
    Una lächelte mich strahlend an. »Sieh nur, was ich kann, Menschenkind.« Ihr zartes Antlitz verzog sich zu einem bekümmerten Stirnrunzeln, ihre geschürzten Lippen begannen zu zittern, und eine einzelne Träne –
meine
Träne – rann über die kalkweiße Wange. Der Tropfen glitzerte an ihrem

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