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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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dort stand – das Kinn beinahe mutig gereckt, obwohl ihre Fremdartigkeit mich innerlich noch immer ein wenig zittern ließ.
    Ich blickte wieder in diese endlos tiefen grünen Augen und versuchte, irgendeine Emotion darin zu lesen, einen Hinweis auf die richtige Antwort, aber da war nichts, nur Tiefe und noch mehr Tiefe. Also nickte ich. »Ich möchte diese Gefälligkeit jetzt in Anspruch nehmen, bitte.«
    »Ich dachte schon« – Una zeichnete mit dem Zeigefinger einen Kreis in die Luft –, »du würdest es nie sagen.«
    Sie winkte mich heran, und ich trat argwöhnisch näher.
    »Ihr Menschen mögt doch Menschen, nicht wahr?«
    Ich wusste nicht recht, was ich darauf antworten sollte.
    Wieder zeichnete sie den Kreis in die Luft, und diesmal schien er dort hängenzubleiben, nachdem sie den Finger gesenkt hatte. »Siehst du ihn?«
    Ich betrachtete den schimmernden Rand des Kreises, doch alles, was ich darin sah, war die knorrige Eiche dahinter. »Nein. Wen?«
    Una schnaubte verächtlich. »Sieh richtig hin.« Sie zeichnete den Kreis noch einmal, und diesmal blendete mich der Rand so sehr, dass ich blinzeln musste. Er war grell wie gleißendes Sonnenlicht und schimmerte auf eine Art, die mir irgendwie
falsch
erschien, weil er die Ränder des Waldes darin und des Waldes darum herum krümmte.
    Und diesmal sah ich ihn. Es war ein Mann Ende dreißig oder Anfang vierzig mit langen braunen Locken, der auf einer Wiese saß und ein Buch las. »Wer ist das?«
    »Tom der Reimer. Einer von
ihnen
. Ein Mensch. Ein Mann. Muss ich noch deutlicher werden?«
    »Ich denke, ich habe verstanden.« Ich hoffte, sie würde mir erklären, welche Rolle der Mann mit den Locken spielte, denn ich hatte keine Ahnung, wie es als Gefallen gelten konnte, mir einen lesenden Fremden zu zeigen.
    »Sieh, wie menschlich er ist«, fuhr Una nachdenklich fort, als er eine Seite umblätterte. Ich war nicht sicher, ob sich das auf sein Äußeres bezog oder auf die Fähigkeit, in einem Buch zu blättern. »Ich denke, du solltest dich ein wenig mit ihm unterhalten.«
    »Wo ist er?«
    »Dort.«
    Wieder kämpfte ich gegen den Drang an, einer Fee eine Ohrfeige zu verpassen, und formulierte die Frage neu. »Wie komme ich dorthin?« Ich hoffte inständig, sie würde nicht »zu Fuß« sagen, weil ich sonst wohl endgültig die Beherrschung verlieren würde.
    »Ich vergesse immer wieder, wie dumm ihr doch seid«, erklärte Una fröhlich, zupfte am Rand und vergrößerte den Kreis, so dass ich sehen konnte, wo der Mann saß: auf der Kuhweide in der Nähe unseres Hauses, wo ich das weiße Kaninchen gesehen hatte. Dann steckte sie sich den Finger in den Mund, als hätte sie sich an dem glühenden Rand verbrannt, und wandte sich mir zu. »Wahrlich, die unendliche Großzügigkeit meines Gefallens überrascht selbst mich.«
    Hm. »Danke«, sagte ich.
    Sie spuckte in den Kreis, worauf er wie Rauch verpuffte. »Ich habe noch einen Vorschlag für dich, ganz umsonst.
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.Ertränke diesen Hund des Jägers, den du in deinem Haus hältst. Du wirst ihn einige Minuten unten halten müssen.« Sie machte eine Bewegung, als hielte sie eine Hand unter Wasser. »Bis die Bläschen aufhören.«
    Ich starrte sie erschüttert an.
    Sie schien mein Entsetzen nicht zu bemerken und sagte stattdessen freundlich etwas, das sie sichtlich Überwindung kostete: »Möchtest du deine Träne zurückhaben? Du wirst sie brauchen.«
    »Nein danke. Ich finde, an dir sieht sie schöner aus.«
    Una grinste mich an.
     
    Sara stellte sich auf der Heimfahrt so hoffnungslos dämlich an, dass sie schließlich rechts ranfuhr und mich ans Steuer ließ. Obwohl ich nur selten üben konnte, kam ich auf den schmalen Nebenstraßen besser zurecht. Mir war fast schwindlig vor Erleichterung. Von der Feenkönigin entführt und gefoltert zu werden, war schlimm, aber um einiges besser, als
tot
zu sein. Der Tod war unumkehrbar. Erst jetzt fielen mir Einzelheiten auf, die mir zuvor entgangen waren: wie herrlich dieser Tag doch war, wie laut die Zikaden zirpten, wie die Blätter ihre helle Unterseite zeigten, wenn sie sich in einer Brise hoben, die für später ein Gewitter ankündigte, obwohl der Himmel strahlend blau war. Mit diesen neu belebten Sinnen bemerkte ich auf der Rückfahrt etwas, das ich vorher übersehen hatte: Lukes Auto.
    Ich trat voll auf die Bremse.
    »Verdammt noch mal! Was soll denn das?«
    Ich setzte bis zur Abzweigung eines schmalen Feldwegs zurück, wo ich Lukes Auto gesehen hatte.
    »Entschuldige, aber

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