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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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sie könnte seine Anwesenheit erraten und ihn mir ebenfalls wegnehmen.
    »Und jetzt gehst du spazieren«, befahl sie und zeigte zur Tür.
    »Spinnst du?« Ich sprang auf und trat den Rückzug in Richtung Wohnzimmer an; ich bereute es, dass ich mir ausgerechnet Dads Arbeitszimmer für meine Recherchen ausgesucht hatte. Ich hätte schneller weglaufen sollen, aber es fiel mir schwer, etwas anderes in ihr zu sehen als meine herrische Tante. »Mom!«
    Delias Finger legten sich wie ein Schraubstock um meinen Arm. »Sie kann dich nicht hören.«
    Ich wand und wehrte mich, und meine Haut brannte unter ihrem Griff. »Was springt für dich dabei heraus?«
    »Ach, stell dich doch nicht dumm.« Ohne Umschweife zerrte Delia mich zu der Doppeltür, die nach draußen führte. Eigentlich hätte ich es schaffen müssen, mich loszureißen, doch unter dieser rosa Plüschrüstung verbarg sich ein sehniger, kräftiger Körper. Sie erinnerte mich an die zahllosen
Cops
-Folgen, die ich mir bei Granna angesehen hatte, in denen es immer hieß, Leute auf Drogen besäßen übermenschliche Kraft. »Alles andere hast du doch auch durchschaut, oder?«
    Und in diesem Moment fügten sich die Puzzleteile zusammen. Das Zimmer in Grannas Haus, in dem Delia beinahe gestorben wäre. Die nassen Füße auf Moms Bett. Rye, der Feenhund, der schon vor meiner Geburt zur Familie gehört hatte. All dies hatte schon lange, lange vor mir angefangen. »Dein Leben. Sie haben dir das Leben gerettet.«
    »Den besten Teil hast du vergessen«, sagte Delia und sang mit dieser glasklaren Stimme, der sie einen lukrativen Plattenvertrag zu verdanken hatte, eine perfekte Tonleiter. »Glaubst du vielleicht, das wäre meine Stimme?«
    »Sie gehörte Mom, oder?«, flüsterte ich.
    Delia versetzte mir einen Stoß und streckte die Hand nachdem Türgriff aus. Ich wirbelte herum und wollte mich gegen die Scheibe stemmen. Zu spät sah ich, dass die Glastür schon offen stand und sie die Hand nach dem Griff der Fliegengittertür ausgestreckt hatte. Sie hatte mich so heftig gestoßen, dass das feine Insektennetz unter meinem Gewicht nachgab und zerriss. Ich landete auf der gepflasterten Terrasse und schlug mit dem Kopf auf. Alles verschwamm mir vor den Augen. »Was willst du von mir?«, stieß ich keuchend hervor.
    Delia starrte mit harten, glitzernden Augen auf mich herab. »Ich will nur, dass du verschwindest.«
    Sie knallte die Glastür zu, und ich hörte das Schloss klicken. Stöhnend richtete ich mich auf und zog die nackten Füße an. Da fiel mein Blick auf einen Blechteller neben der Tür. Ein verkohlter, noch rauchender Zweig lag darauf.
Thymian!
Sie hatte Thymian verbrannt und mich dann hinausgeworfen.
    Mir blieb kaum genug Zeit für den Gedanken
meine verdammte Tante hat mich verraten
, da sah ich auch schon ein männliches Wesen mit braunem und goldenem Haar durch den Garten auf mich zukommen. Hundert Rye-Hunde drängten sich um ihn – manche schlank wie Greyhounds, andere massig wie Mastiffs, aber alle von derselben Farbe wie Rye.
    Er
warf in der Nachmittagssonne keinen Schatten, und es war schwierig, ihn vor dem Hintergrund der Bäume auszumachen. Er trug seltsame, enganliegende Kleidung in verschiedenen Grün- und Brauntönen. Das Wams und die hautenge Hose waren aus glattem Leder, die Ärmel aus Rauhleder oder Moos. Geflochtene Zöpfe aus trockenem Gras waren außen an jedes Bein gebunden und hingen in losen Büscheln von seinen Handgelenken wie Rüschen an einem viktorianischen Gewand oder die Füllung, die aus einer Vogelscheuche hervorquillt. Er sah aus, als sei er aus Erde erschaffen und könne ebenso mühelos wieder mit ihr verschmelzen, doch seine Züge hatten dieselbebeängstigende Symmetrie wie bei Sommersprosse und Eleanor, die auch ihm diese unirdische Schönheit verlieh.
    Er wandte den Kopf – noch hatte er mich nicht gesehen. Ich hätte versuchen können, wieder ins Haus zu gelangen, doch hinter der Glastür ragte Delia wie eine mächtige, bösartige Wächterin auf. Ich zögerte nur einen Augenblick, dann sprang ich auf und rannte los. Als ich in wilder Flucht durch den Garten hetzte, fiel mir etwas ein, was Granna mir einmal gesagt hatte:
Hunde jagen nur Katzen, die fliehen.
Leider kam die Erkenntnis ein bisschen zu spät.
    Als ich den Nachbarsgarten erreichte und durch das Labyrinth aus Terrakotta-Kübeln rannte, hörte ich ein langgezogenes, hohes Jaulen. Der Laut war grausig, selbst ohne das Wissen, was er bedeutete: Die Hunde hatten die Jagd

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