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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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ich habe etwas gesehen. Ich gehe nur kurz nachschauen. Zwei Sekunden, okay?«
    Sie spähte nach draußen, ehe sie sich eine Zeitschrift vomRücksitz angelte. Anscheinend vermutete sie, dass »zwei Sekunden« für mich dasselbe bedeuteten wie für sie. Ich ging zu Lukes Auto, das in der Mündung des überwucherten Feldwegs steckte wie in einem Maul; der Weg diente als Zufahrt zu dem dahinterliegenden Maisfeld. Die Position des Wagens wies auf eine gewisse Eile hin. Ich malte mir aus, wie Luke James zu Hilfe gekommen war und ihn aus dem Wrack gezogen hatte – ein deutlich angenehmeres Bild als die Vorstellung, wie ein blutender James aus seinem Pontiac auf den Asphalt kroch.
    Der Audi war nicht abgeschlossen, und obwohl ich mir ein bisschen albern vorkam, rutschte ich auf den Fahrersitz und zog die Tür hinter mir zu. Ich lehnte mich auf Lukes Platz zurück, schloss die Augen und ließ mir von seinem Duft vorgaukeln, er säße hier bei mir. Obwohl ich ihn erst gestern Abend gesehen hatte, vermisste ich ihn, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Wenn ich bei ihm war, fühlte ich mich geliebt, begehrt, beschützt; jetzt kam ich mir vor wie ein winziges Boot, das auf einem fremden, dunklen Ozean trieb.
    Ich öffnete die Augen. Es war dunkel – Nacht umhüllte das Auto wie eine dicke Decke. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass ich mich in einer Erinnerung befand. Ich war Luke. Ich saß hinter dem Steuer meines Wagens. Adrenalin ließ mein Herz hämmern. Ein Gefühl der Dringlichkeit pulsierte durch meine Adern – ich musste den Unfallort erreichen, ehe
sie
kamen. Ich drehte mich auf dem Sitz herum und betrachtete ein Einmachglas mit gelblich-grüner Paste, das auf der Beifahrerseite auf dem Boden lag.
    Ich dachte daran, mir etwas davon auf die Schuhe zu schmieren, als Schutz. Aber nein, das Glas musste für Dee und ihre Eltern genügen, und ich wollte nicht riskieren, etwas davon zu verschwenden. Außerdem wollten
sie
ja nicht mich; jedenfalls nicht, bis Dee tot war. Verdammt. Ich ließ das Glasliegen, sprang aus dem Auto und hoffte, dass der Junge noch am Leben war.
    Die Erinnerung brach ab, als ich hörte, wie die Tür aufging. Im wahren Leben, in
meinem
Leben, war die Tür geschlossen, und ich saß immer noch auf Lukes Platz. Ich schaute auf den Boden vor dem Beifahrersitz, und tatsächlich – im scharf umrissenen Schatten der Mittagssonne lag ein Einmachglas. Grannas zähflüssiges Gebräu sah aus, als hätte sich eine Katze übergeben.
    Er hatte es also gefunden. Seufzend hob ich das Glas auf – oh, wie
eklig
, es war ein bisschen warm, so, als lebte es – und stieg aus dem Auto. Ich wünschte, ich könnte mir einen Vorwand einfallen lassen, irgendeine Geschichte für Sara, um Bukephalos mit nach Hause nehmen zu können. Auch wenn es egoistisch war, wünschte ich mir, dieses Andenken an Luke nah bei mir zu haben.
    Eine Bewegung erregte meine Aufmerksamkeit. Etwas verdunkelte die Sonne unter den spärlichen Bäumen am Rand des Feldes. Drei oder vier Meter vom Auto entfernt überquerte ein Mann die Straße. Er war groß, seine Haut so braun wie der Staub des Feldwegs. Er war vollkommen nackt, seine Muskeln lang und sehnig wie die eines Hirschs oder eines Rennpferds. Obwohl seine Blöße meinen Blick hätte auf sich ziehen müssen, konnte ich ihn nicht von dem langen, peitschendünnen Schwanz an seinem Hinterteil abwenden, der in einem Haarbüschel endete wie bei einer Ziege.
    Das Feengeschöpf – er konnte nichts anderes sein – hielt inne und wandte langsam den Kopf, um mich anzusehen. Seine Augen standen zu dicht beisammen, und die Nase über dem breiten Mund war zu lang und zu schmal für einen Menschen. Sein Blick war der eines wilden Lebewesens, das wusste, was ich war, sich aber weder fürchtete noch für mich interessierte.Ich wartete ab, bis es außer Sichtweite war, ehe ich zu Saras Wagen zurücklief und einstieg, sorgsam darauf bedacht, das Glas festzuhalten.
    »Was ist das?« Sara legte ihre Zeitschrift weg.
    »Eine Art Anti-Feen-Saft, den meine Großmutter gebraut hat.«
    »Oh, wow. Wo hast du den her?«
    Ich zeigte auf den Feldweg. »Aus Lukes Auto.«
    »Luke ist dieser süße Typ, stimmt’s? Wo ist er?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Sara runzelte die Stirn. »Das wird mir langsam echt unheimlich. Hört sich an wie ein Horrorfilm, und alle wissen, dass die scharfe Braut immer zuerst stirbt. Sehen wir zu, dass wir hier wegkommen.«
    Das taten wir, und den einzigen Beweis für Lukes

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