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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Existenz ließen wir auf dem staubigen Feldweg zurück.

Siebzehn
     
     
     
     
     
    Warum suchst du nach ›Mittsommer‹?«
    Über den Laptop meines Vaters gebeugt, gab ich fieberhaft Begriffe wie »Mittsommernacht«, »Galloglass« und »Tom der Reimer« bei diversen Suchmaschinen ein. Ich hatte Delia nicht kommen hören.
    »Verdammt!« Das Herz schlug mir bis zum Hals. Diese Gewohnheit, sich hinterrücks anzuschleichen, wurde allmählich lästig. Ich drehte mich um und sah sie mit einem Becher Kaffee in der Hand hinter mir stehen. Ihre grünen Augen leuchteten. Sie sah so
lebendig
aus. Es war, als hätte ich sie bislang nur als Schwarzweißfoto gekannt, während sie nun in Farbe vor mir stand. Ihr Anblick jagte mir eine Heidenangst ein. Auf einmal hatte ich kein schlechtes Gewissen mehr, weil ich Grannas Mixtur auf die Schuhe meiner Eltern geschmiert, Delias hingegen ausgelassen hatte.
    Delia beugte sich über meine Schulter und las, was auf dem Bildschirm stand. Ich war gerade auf einer kitschigen Webseitenamens »Das Feen-Beet«, wo Pflanzen aufgelistet waren, mit denen man angeblich Feen in den Garten locken konnte. In dem Teil, den ich gerade las, ging es darum, dass in der Mittsommernacht der Schleier zwischen Feenreich und Menschenwelt hauchdünn wurde. Die Autorin empfahl, Schälchen mit Milch und brennende Thymianzweige hinauszustellen, um die optimale Feen-Besuchsfrequenz zu erreichen. Vergeblich hatte ich mir vorzustellen versucht, wie diese Ziegenfee von vorhin – oder, noch besser, Aodhan – Milch aus einem Schälchen schlabberte wie ein zahmes Kätzchen. Wie kamen die Leute bloß auf diesen Blödsinn?
    Delia lachte. »Was hast du denn da noch alles?«
    Ich dachte kurz daran, mit dem Laptop die Flucht zu ergreifen. Stattdessen wich ich zurück, ließ sie über meine Hand hinweggreifen und sich durch die anderen offenen Fenster klicken. Ihr Blick schweifte über die Ballade von Tom dem Reimer – von der Feenkönigin geraubt und mit einer Zunge beschenkt, die nicht lügen konnte – und weiter zu einer Webseite mit der Definition von »Galloglass«: ein Söldner des alten Irland. Der rechteckige Bildschirm spiegelte sich in ihren Augen, während sie las. Als sie fertig war, trat sie zurück.
    »Ich nehme an, du willst mir erzählen, das sei für ein Schulprojekt.«
    Keine Ahnung, weshalb mir ihre Frage solche Angst einjagte. Aus irgendeinem Grund hatte sie damit die Grenze zwischen angedeuteten Merkwürdigkeiten und offener Böswilligkeit überschritten. Ich überlegte lange, was ich darauf erwidern sollte. »Das wäre ungefähr so, als würdest du mir erzählen, dass du Luke vor dem Musikwettbewerb noch nie gesehen hast.«
    Delia schwieg. Nun war sie in unserem verbalen Schachspiel am Zug. »Ich glaube, ich kenne noch eine vielversprechende Suche für dein Schulprojekt.« Sie beugte sich wiederüber mich, setzte den Cursor ins Eingabefeld der Suchmaschine. »Geiseln befreien« tippte sie und drückte mit einem manikürten Fingernagel auf
Enter
.
    Ich starrte auf die Liste mit Zeitungsartikeln und Blog-Einträgen und erinnerte mich daran, wie Delia mir heute Morgen das Telefon nach oben gebracht hatte. Sie hatte gewusst, was James zugestoßen war, richtig? Und sie hatte bei ihm zu Hause angerufen, um sicherzugehen, dass
ich
davon erfuhr.
    »Er muss sehr schwer verletzt sein«, sagte Delia in den Raum hinein. »Wie ich gehört habe, war an der Unfallstelle furchtbar viel Blut. Falls er noch am Leben ist, bleibt ihm sicher nicht mehr viel Zeit.«
    Am liebsten hätte ich mir Augen und Ohren zugehalten, ihre Stimme übertönt und so getan, als bliebe in meinem zunehmend absurden Leben wenigstens meine anstrengende Tante dieselbe. »Was willst du damit sagen?«
    Delia streckte die Hand aus. »Wie wär’s, wenn du mir Grannas Ring gibst?«
    Aufgeschreckt von dieser merkwürdigen Bitte, starrte ich zu ihr hoch. »Nein, ich denke, das werde ich nicht tun. Granna wollte, dass ich ihn bekomme.«
    »Und jetzt sollte er zu ihr zurückkehren.«
    »Ich habe
nein
gesagt.«
    Delias Hand schnellte vor und schloss sich mit überraschender Kraft um mein Handgelenk. Ich japste vor Schmerz, als sie mit der anderen Hand den Ring packte und ihn mir so grob vom Finger zog, dass die Haut mitgerissen wurde. Dann ließ sie unvermittelt mein Handgelenk los und steckte den Ring in ihre Hosentasche. Entsetzt starrte ich sie an. Verborgen unter meinem leichten Pullover brannte Lukes Schlüssel auf meiner Haut. Ich fürchtete,

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