LaNague 05 - Der Tery
Krankheit in Aussehen und Verhalten den Menschen angenähert hatte. Bestimmt vermuteten manche meiner Ahnen, daß sie in Wahrheit Menschen seien, aber vor mir konnte es keiner je wirklich wissen. Denn ich kam nicht nur mit einem Schwanz zur Welt, sondern mit einer weiteren Mitgift: Ich besaß das Talent. Weder meine Mutter noch mein Vater waren damit begabt; vielleicht hatte jeder von ihnen nur ein Bruchstück des Talents in sich gehabt, die dann in mir zu einem Ganzen verschmolzen … Ich weiß es nicht … Es gibt noch vieles, was ich nicht weiß! Aber ich wußte, daß ich ein Tery war, der das Talent hatte, obwohl man glaubte, nur Menschen könnten im Besitze des Talentes sein. Ich beschloß also zu beweisen, daß ich ein Mensch war.
Ich beschloß auch, daß die Gestalter nicht länger über uns lachen sollten. Ich werde keine Kinder zeugen.«
Der Tery stand unbeweglich und fixierte Rab angespannt. Obwohl er den Mann erst seit kurzem kannte, hatte er Vertrauen zu ihm gefaßt. Er fühlte, daß er die Wahrheit gesagt hatte … Und dennoch konnte er nicht von Adriel lassen. Er spürte, es würde ihn zerreißen, wenn er auf sie verzichten müßte.
»Du kannst mich nicht davon abhalten, Rab«, sagte er schließlich.
»Das stimmt. Du hast heute nacht zwei Männer getötet, beinahe wären es drei gewesen. Es wäre ein leichtes für dich, auch mich zu töten. Aber du wirst es nicht tun, denn ich spüre etwas in dir – etwas, das besser ist. Ich spüre, daß in dir fast alle guten menschlichen Eigenschaften angelegt sind. Und du wirst dich nicht einem Mädchen mit Gewalt aufzwingen, das dein Freund war.«
Rab wickelte seine alten Metallbände aus dem Tuch, in dem er sie getragen hatte, und breitete es auf dem Boden aus. Nach einem kurzen, spannungsgeladenen Augenblick legte der Tery Adriel sanft auf das Tuch und deckte sie damit zu. Dann richtete er sich auf, drehte sich um und ging langsam auf die dichten Wälder zu.
»Wo gehst du hin?«
»Fort. Ich gehöre nicht hierher.«
»O doch!« sagte Rab. »Zumindest wirst du einmal dazugehören. Die Talente werden dich nicht von Anfang an als einen Menschen akzeptieren, und wenn wir zu sehr auf deiner menschlichen Natur beharren, könnten sie dich sogar ganz zurückweisen. Wir werden daher langsam vorgehen. Du wirst allmählich immer mehr sprechen, dann wirst du damit beginnen, Werkzeuge zu benutzen. Ich leite dich an, und bevor ich noch mein Vorhaben ganz ausgeführt haben werde, werde ich sie dazu gebracht haben, in dir einen Menschen zu erkennen, ohne daß ich ihnen gesagt hätte, daß du einer bist! Als allererstes müssen wir dir einen Namen geben.«
Der Tery hatte sich wieder umgewandt und sah Rab in die Augen, während er sprach. Bis jetzt hatte ihn nur noch ein anderer Mann so angesehen.
»Wirst du bleiben … Bruder?«
Der Tery antwortete nicht. Mit langsamen Bewegungen, die ihn zu schmerzen schienen, kehrte er zu Adriel zurück, kniete sich neben ihr nieder und begrub sein Gesicht in seiner linken Hand. So verharrte er lange Zeit. Rab entfernte sich und ließ sich still nieder, den Rücken an einen Baumstamm gelehnt.
Das friedvolle Bild wurde durch den Lärm von jemandem, der durch das Unterholz bracht, gestört. Beide sprangen sofort auf die Füße: Rab halb hinter dem Baumstamm verborgen, der Tery über Adriel kauernd, bereit zum Sprung.
Ein einzelner Mann kam in Sicht. Es war Tlad.
X
Tlad blickte auf Adriels leblose Gestalt nieder.
»Ist sie verletzt?« In seiner Stimme schwang deutlich Betroffenheit mit.
»Nein«, antwortete Rab und kam vorsichtig hinter dem Baum hervor. »Sie ist nur betäubt. Aber wer bist du?«
»Man nennt mich Tlad. Der Tery kann das bezeugen.«
Rab blickte den Tery scharf an: »Weiß er denn …?«
Der Tery nickte – eine sehr menschliche Geste – und ließ sich auf allen vieren neben Adriel nieder. »Er ist ein guter Freund. Ich kann mir nicht denken, wieso er es weiß, aber er weiß es – möglicherweise schon seit langem. Vielleicht ist er auch ein Tery.«
Der Stimme des Tery waren die körperlichen, seelischen und emotionalen Strapazen der letzten Nacht anzumerken. Sein Gesicht und sein Körper waren abgestumpft. Ein großes Gewicht schien ihn niederzudrücken und ihm das Atmen zu erschweren, aber es war ihm gleichgültig. Er hatte nur noch den einen Wunsch, sich niederzulegen und sich um nichts mehr kümmern zu müssen. Er fühlte sich preisgegeben – verloren seiner Identität beraubt. Man hatte ihm seinen
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