Land aus Glas
lichterloh.
Pekisch stand da und sah dem strömenden Regen vom Fenster aus zu. Doch eigentlich hörte er ihm zu. Für ihn war das alles in erster Linie eine endlose Klangfolge. Wie so oft, wenn sich die Welt in besonders vielschichtigen Sinfonien produzierte, lauschte er gebannt und von einer leichten, fiebrigen Nervosität beherrscht. Der strömende Regen spielte mit Pauken und Trompeten, und er hörte zu. In seinem Zimmer am Ende des Flurs im Haus der Witwe Abegg, barfuß, im Nachthemd aus Naturwolle, das Gesicht dicht an der Fensterscheibe, reglos. Der Schlaf hatte ihn verlassen. Sie waren allein, wunderbar allein, er und der strömende Regen. Doch dann schickte die Glocke von Quinnipak ihren ersten Schlag in die Nacht.
Pekisch hörte, wie er aufbrach, die tausend Töne, die vom Himmel fielen, umdribbelte, die Nacht durchdrang, sein Gehirn streifte und in der Ferne verschwand. Er hörte ihn so, als hätte ihn etwas geschrammt. Eine Wunde. Er hielt die Luft an und begann unwillkürlich auf den zweiten Schlag zu warten. Er hörte, wie er aufbrach, die tausend Töne, die vom Himmel fielen, umdribbelte, die Nacht durchdrang, sein Gehirn durchbohrte und in der Ferne verschwand. Genau in dem Augenblick, als die Stille wiederkehrte, begriff er, daß er eine absolute Gewißheit besaß: Diesen Ton gab es nicht. Er riß die Zimmertür auf, fegte im Laufschritt über den Flur und landete barfuß auf der Straße. Er hörte den dritten Schlag, während er noch lief, und spürte plötzlich die Wasserwand, die vom Himmel auf ihn niederging, doch er hörte erst auf zu laufen, als er mitten auf der Straße war. Dort blieb er stehen, mit den Füßen im Matsch, schaute zum Kirchturm von Quinnipak hinauf, schloß die Augen, die von Tränen überflutet wurden, die nicht ihre waren, und wartete darauf, daß er kam.
Der vierte Schlag.
Er brauchte mehrere Sekunden, um ihn ganz zu hören, vom ersten Anklingen bis zum letzten Nachhall. Dann stürzte er Hals über Kopf zum Haus. Er lief und schrie im Getöse dieses Regengusses einen Ton, schrie gegen dieses ohrenbetäubende Getöse an. Er ließ den Ton nicht los, als er die Haustür öffnete, und auch nicht, als er durch den Flur lief, wobei er alles mit Matsch verschmierte und mit Wasser aus seinen Kleidern, aus seinen Haaren und aus seiner Seele volltropfte, er ließ ihn nicht los, bis er in seinem Zimmer an seinem Fortepiano stand – Pleyel 1808, helles Holz, in wolkengleichen Windungen gemasert –, sich hinsetzte und zwischen den Tasten zu suchen begann. Er suchte natürlich den Ton: h und b und dann a und b und h und dann c und dann c und h und dann b. Er suchte den Ton, der zwischen den weißen und schwarzen Tasten versteckt war. Von seiner Hand perlte das Wasser des Regengusses, der aus den höchsten Höhen des Himmels gekommen war, um schließlich auf eine Elfenbeintaste zu tropfen und in der Ritze zwischen einem c und einem d zu versickern – ein wunderbares Schicksal. Er fand ihn nicht. Er hörte auf, ihn zu schreien. Er hörte auf, in die Tasten zu greifen. Er spürte, wie ein Glockenschlag auf ihn zukam, wer weiß, der wievielte. Er sprang auf, fegte wieder im Laufschritt durch den Flur, stürzte auf die Straße hinaus, blieb diesmal nicht einmal mehr stehen, lief in den Regen hinein und jenem Ton entgegen, den die Glocke durch eine Wand aus Wasser regelmäßig zu ihm sandte – die heillose Unbeirrbarkeit einer Glocke –, und wieder begann er diesen Ton, den es nicht gab, zu schreien, und er machte in diesem alles überschwemmenden Regenguß kehrt, lief schnurstracks ins Haus zurück, rutschte auf dem Matsch im Flur bis zum Pleyel 1808 – helles Holz, in wolkengleichen Windungen gemasert –, und während er diesen Ton, den es nicht gab, rhythmisch schrie, fing er an, rhythmisch auf die Tasten zu schlagen, auf jede einzelne nacheinander, um ihnen das abzunötigen, was sie nicht besaßen – den Ton, den es nicht gab. Er schrie und hämmerte, b und h und dann c und dann h und dann b und dann b und dann b, und er schrie, während er in ungläubiger Raserei, oder wer weiß, vielleicht war es auch erstaunte Begeisterung, auf die Tasten hämmerte. Waren es Tränen oder Regentropfen, die ihm da übers Gesicht liefen? Als er im Laufschritt wieder zurück durch den Flur hetzte, war auf dem Fußboden schon so viel Wasser und Matsch, daß er schlitternd zur Tür gelangte und weiter schlitternd auf die Straße, wo er erneut, doch mit einem Atemrhythmus, der ihm einen ganz
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