Land der Mythen 01 - Unter dem Erlmond
Mar, zurück zu ihrem Gemach. Der Weg dorthin kam ihr endlos vor, und sie hatte den Eindruck, in einem Labyrinth zu wandeln, aus dem es kein Entkommen gab.
Ein Mann der Turmwache, an dem sie schluchzend vorüberhastete, bedachte sie mit einem verwunderten Blick, worauf sie sich zur Ordnung rief und um Beherrschung rang. Sie durfte nicht auffallen, musste den Anschein erwecken, dass alles in Ordnung wäre – auch wenn vor wenigen Augenblicken eine Welt für sie in sich zusammengestürzt war.
Jene heile Welt nämlich, in der sie gelebt hatte, seit sie ein Kind gewesen war. Sie war soeben grausam zerstört worden…
Endlich erreichte sie die Tür zur ihrer Kemenate und stürzte hinein. Calma, ihre treue Freundin und Zofe, sprang auf, als sie das Entsetzen in Rionnas Zügen gewahrte.
»Mein Kind!«, rief sie erschrocken. »Was ist mit Euch?«
»Es ist aus!«, erwiderte Rionna gepresst und mit Endgültigkeit in der Stimme. »Alles ist aus, teure Calma!«
»So dürft Ihr nicht sprechen, Kind. Ihr habt getan, was Ihr konntet, um zu verhindern, dass Iónadors Heer die Stadt verlässt. Dass es anders gekommen ist, liegt nicht an Euch, und…«
»Ich weiß«, erwiderte die Prinzessin leise und setzte sich in einen Sessel, bevor ihre zitternden Knie noch nachgaben. »Das ist es nicht, was mich so schockiert.«
»Nein?« Die Zofe setzte sich zu ihr. »Was ist es dann?«
»Erinnerst du dich, als du mir von den seltsamen nächtlichen Geräuschen auf dem Turmplatz erzähltest? Von den rätselhaften Gestalten, die des Nachts vor dem Turm herumschleichen? Von deinem geheimen Verdacht?«
»Gewiss, Prinzessin«, erwiderte Calma vorsichtig. »Ihr wart sehr aufgebracht darüber…«
»Das war ich«, bestätigte Rionna mit Ernüchterung in der Stimme. »Wie dumm ich gewesen bin.«
»Was ist geschehen?«
»Wie du weißt«, berichtete Rionna mit bebender Stimme, »wollte ich mich noch einmal mit meinem Onkel treffen, um mit ihm über den bevorstehenden Krieg zu sprechen. Ich wollte ihm noch einmal sagen, dass ich es für einen Fehler halte, sämtliche Truppen nach Norden zu entsenden und Iónador nahezu schutzlos zurückzulassen…«
»Und?«
»Ich suchte also seine Gemächer auf, um ein letztes Mal mit ihm über dieses Thema zu reden, gleich, was er entgegnen oder wie er darauf reagieren würde. Doch zu diesem Gespräch kam es nicht. Stattdessen fand ich…« Sie unterbrach sich, als ein eisiger Schauer ihren schlanken Leib durchrieselte und ihr erneut Tränen in die Augen traten. Die bloße Erinnerung genügte, damit das Grauen zurückkehrte.
»Was ist geschehen, mein Kind?«, fragte Calma. Wachsende Furcht schwang in ihrer Stimme mit.
»Ich… ich bin nicht bis zu Klaigon vorgedrungen«, erzählte Rionna schluchzend. »Auf dem Weg zu ihm hörte ich plötzlich Schritte auf dem Gang, und mich überkam das jähe Gefühl, mich verstecken zu müssen. Furcht griff nach meinem Herzen, wie ich sie zuvor noch nie verspürt habe, denn ein Odem der Grausamkeit erfüllte die Luft, kälter noch als Eis. Ich flüchtete mich hinter einen Vorhang. Dort verharrte ich, am ganzen Körper zitternd, während ich hörte, wie sich die Schritte näherten – ungleichmäßige, schleppende Schritte, nicht wie die eines Menschen. Die Kälte nahm noch zu, und ich verspürte das Verlangen, laut zu schreien. Ich beherrschte mich jedoch, da ich ahnte, dass dieser Schrei mein letzter gewesen wäre. Durch einen Spalt im Vorhang wagte ich einen Blick und sah einen Schatten, der den Gang herabfiel – und im nächsten Moment erblickte ich…«
»Was?«, fragte die Zofe bang.
Rionna starrte sie aus tränennassen Augen an. »Eine Kreatur«, sagte sie mit versagender Stimme. »Das grässlichste Wesen, das ich je gesehen habe.«
Calma war erstaunt. »Ein Wesen, sagt Ihr?«
Rionna nickte.
»Kein Mensch?«
Kopfschütteln.
»Wie hat es ausgesehen?«, erkundigte sich die Zofe sanft. »Könnt Ihr Euch daran erinnern?«
»Ich habe es nur für einen kurzen Augenblick gesehen«, sagte Rionna flüsternd, »aber ich werde den Anblick nie vergessen. Die Kreatur war von riesenhafter Größe, sodass sie sich bücken musste, um mit dem grässlichen Schädel nicht an die Decke zu stoßen. Sie ging auf zwei Beinen wie ein Mensch, aber ihr Gang war nach vorn gebeugt und schleifend. Bekleidet war sie mit einer Rüstung aus Knochengebein, und ein fauliger Gestank begleitete sie. Und ihre Haut, sie war… war…«
»Was war mit der Haut?«, forschte Calma nach, als die
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