Land der Mythen 01 - Unter dem Erlmond
Prinzessin wiederum ins Stocken geriet, von Grauen nahezu überwältigt.
»Muskelberge türmten sich darunter – nie habe ich eine Kreatur gesehen, die von roherer Kraft erfüllt gewesen wäre. Darüber spannten sich dicke Adern, in denen dunkler Lebenssaft pulsierte, und die Haut selbst war von blauer Farbe und…«
»Von blauer Farbe, sagt Ihr?«
»Hellblau wie ein eisiger Gebirgsfluss, doch von dunklen Adern durchzogen«, bestätigte Rionna. »Und da war das Haupt des Riesen, das er wütend nach vorn reckte. Nur ein Auge hatte es…«
»Nur ein Auge…«, murmelte Calma.
»Ja, nur eines – du musst mir glauben. Suchend blickte er sich damit um, als witterte er meine Nähe. Dann verharrte er einen Moment, als hätte er mich bereits entdeckt. Aber schließlich ging er weiter den Gang hinab und war im nächsten Moment verschwunden. Ich blieb noch eine Weile hinter dem Vorhang, unfähig, mich zu rühren. Dann rannte ich so schnell meine zitternden Beine mich trugen.«
»Ihr habt klug gehandelt, mein Kind«, war Calma überzeugt.
»Dann… glaubt Ihr mir?«, fragte Rionna zögernd.
»Warum sollte ich nicht?«
»Weil es eine Kreatur wie diese nicht geben dürfte. Ich begreife selbst kaum, was ich gesehen habe. Nur eines weiß ich: dass sie so wirklich war wie du und ich.«
»Ich weiß, mein Kind.«
»Du… weißt es?«
»Verratet mir nur eines: Trug jener einäugige Riese ein spitz zulaufendes Horn auf seinem Kopf, über dem einzelnen Auge?«
»In der Tat«, bestätigte Rionna entsetzt. »Woher weißt du…?«
»Dann besteht kein Zweifel mehr«, erwiderte die alte Allagáinerin betrübt.
»Kein Zweifel mehr? Worüber?«
»Dass du einem Enz begegnet bist«, eröffnete Calma leise. »Einem Eisgiganten.«
»Einem… Eisgiganten? Aber…«
»Blau ist ihre Farbe, tödlich ist ihr Horn«, zitierte Calma, »und das eine böse Auge blickt in stillem Zorn. – So steht es in der Sängerchronik geschrieben.«
»Die Chronik ist Jahrhunderte-, wenn nicht jahrtausendealt«, hielt Rionna dagegen. »Niemand weiß, ob die darin geschilderten Ereignisse Geschichte sind oder nur Mythen.«
»Da ist kein Unterschied«, war die alte Zofe überzeugt. »Habt Ihr vergessen, was der Prophet vom Urberg Euch gelehrt hat? Was Ihr auf Eurer Wanderschaft erfahren habt?«
»Ich habe es durchaus nicht vergessen. Aber diese Kreatur kann dennoch kein Eisriese gewesen sein.«
»Warum nicht?«
»Sehr einfach«, gab Rionna ein wenig hilflos zur Antwort, »weil die einäugigen Giganten auf der Seite der Finsternis stehen und sich keiner von ihnen in Iónador frei bewegen dürfte.«
»Ganz recht«, stimmte Calma verbissen zu. »Es sei denn…«
»Nein!«, schrie Rionna ihre Zofe an und schüttelte den Kopf, trotzig wie ein Kind.
»Es zu leugnen hat keinen Zweck!«, rief Calma. »Sprecht es aus, Prinzessin!«, forderte sie ihre Herrin auf. »Der Gedanke ist bereits in Eurem Herzen, sonst hättet Ihr Euch nicht an mich gewandt. Nun überwindet Eure Furcht und sprecht offen aus, was Ihr vermutet. Habt Mut, mein Kind.«
Rionna starrte ihre Dienerin an – doch allmählich wich der Trotz aus ihrem Blick und machte erneut Angst und Schrecken Platz. »Es sei denn«, wiederholte sie tonlos, »mein Onkel ist dem Bösen verfallen und macht gemeinsame Sache mit Iónadors Feinden!«
»Genau so ist es.« Calma nickte. »Was Ihr gesehen habt, lässt leider keinen anderen Schluss zu, mein Kind.«
»Freust du dich darüber?«
»Wieso sollte ich mich freuen?«
»Ich hatte unrecht und du hattest recht«, antwortete Rionna niedergeschlagen. »Genau wie der Druide…«
»Mein Kind, hier geht es nicht darum, wer am Ende recht behält und wer nicht. Wenn sich Klaigon mit dem Bösen verbündet hat, steht unser aller Überleben auf dem Spiel. Unsere Soldaten haben die Stadt verlassen, Iónador ist schutzlos!«
»Natürlich, das stimmt«, hauchte Rionna, der eben erst klar zu werden begann, was der Verrat ihres Onkels bedeutete. »Der Krieg gegen das Waldvolk, die Aufstellung eines Heers – möglicherweise hat das alles zum Plan gehört…«
»Es würde jedenfalls erklären, weshalb Iónadors Waffenkammern zum Bersten gefüllt waren«, folgerte Calma scharfsinnig, »und weshalb ich in jener Nacht gesehen habe, wovon ich Euch bereits erzählte.«
»Beim Erbe der Könige, du hast recht!«, seufzte die Prinzessin. »Aber… aber warum sollte Klaigon zum Krieg gegen das Waldvolk rüsten und seine Stadt schutzlos dem Feind überlassen? Er weiß doch
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