Land der Mythen 01 - Unter dem Erlmond
umzudrehen.
»Wenn dir so viel daran liegt, Onkel.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber du solltest lieber nicht damit rechnen, dass ich meine Meinung noch ändere.«
»Dann entferne dich jetzt!«, sagte er unwirsch und merklich erbost. »Du hast meine Erlaubnis zu gehen, Nichte. Für heute hast du meine Geduld genug strapaziert.«
»Ich danke dir, Onkel!«
Klaigon hörte das Rauschen ihres Kleides, als sie sich verbeugte, ihre leisen Schritte, die sich über den steinernen Boden entfernten, und schließlich die Tür, die sich hinter ihr schloss.
Missmutig rieb sich der Fürstregent das Kinn. Rionna wurde mehr und mehr zum Problem. Jeder Versuch, ihr eigensinniges Wesen zu bändigen oder es sich gar zunutze zu machen, schien von vornherein zum Scheitern verurteilt. Karrols Tochter hatte den gleichen unbeugsamen Willen wie ihr Vater.
Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sie am Leben zu lassen…
5
In düstere Gedanken versunken ging Prinzessin Rionna zurück zu ihren Gemächern. Auf leisen Sohlen stieg sie die steinernen Stufen hinab, die in engen Windungen in die Tiefe des Túrin Mar führten.
Rionna hatte den Großen Turm nie gemocht. Schon als Kind war er ihr unheimlich gewesen. Sie hatte sich in den dunklen Stollen und Fluchten aus Stein nie zu Hause gefühlt. Viel hätte sie darum gegeben, als Tochter eines einfachen Handwerkers in der Stadt leben zu dürfen, statt in diesen Mauern eingesperrt zu sein.
Gewiss, als Nichte des Regenten hatte sie viele Privilegien, auf die Rionna allerdings gut hätte verzichten können. Zu gern wäre sie diesem goldenen Käfig entronnen, um ein Leben in Freiheit zu führen.
Soweit sie zurückdenken konnte, hatten stets andere ihr Leben bestimmt. Zunächst ihr Vater, der es immer gut mit ihr gemeint, sein Leben jedoch ganz den Pflichten des Fürstregenten geopfert hatte; alles andere hatte dahinter zurückstehen müssen, auch seine Tochter. Später dann ihr Onkel, der ihm im Amt des Regenten nachgefolgt war. Nach dem Tod ihres Vaters war Rionna Klaigons Mündel geworden, und er herrschte über sie mit nicht weniger strenger Hand als über Allagáin.
Nach seinem Willen sollte sie Barand heiraten, einen Spross aus vornehmer Familie. Für ihren Onkel mochte es eine kluge und vernünftige Entscheidung sein – für Rionna hingegen war es, als wollte man ihre Gefangenschaft auf Lebenszeit verlängern.
Niedergeschlagen betrat sie ihre Gemächer, wo Calma, ihre treue Zofe, bereits auf sie wartete. Calmas Familie stammte aus Allagáin; entsprechend war die Zofe von gedrungener, kräftiger Gestalt, anders als die hohen Damen Iónadors, deren Ahnen einst aus dem Süden gekommen waren und deren schlanker Wuchs und edle Züge weithin gerühmt wurden. Da Rionnas Mutter im Kindbett verstorben war, hatte Calma das Mädchen großgezogen, und sie war ihre Pflegemutter, Amme und Dienerin zugleich gewesen. Mehr noch, in ihr hatte Rionna eine treue Freundin und Vertraute, mit der sie auch ihre verborgensten Gedanken teilen konnte. Und Calma bestärkte Rionna darin, an ihren Träumen und Wünschen festzuhalten, selbst wenn sie innerhalb der Mauern des Túrin Mar unerfüllbar schienen.
»Ach, Calma«, machte Rionna ihrem Kummer Luft. »Ich weiß nicht, woran es liegt. Mein Onkel will mich einfach nicht verstehen. Er denkt, es müsste mein größtes Glück sein, einen Fürsten zu heiraten und dereinst Regentin von Iónador zu werden.«
»Fürst Klaigon will nur Euer Bestes, Herrin«, erwiderte die Zofe in ihrer milden, besonnenen Art. »Habt Ihr ihm gesagt, dass Euer Herz eine andere Sprache spricht?«
»Das habe ich. Aber er ist der Ansicht, dass meine persönlichen Empfindungen zurückstehen müssten, denn immerhin ginge es um die Zukunft.«
»Um die Zukunft?«
»Er spricht von meiner Zukunft«, bestätigte Rionna, »aber was er in Wirklichkeit meint, ist die Zukunft Iónadors.«
»Das ist ungebührlich«, ereiferte sich Calma. »Selbst einem Fürstregenten steht es nicht zu, sich gegen die Macht der Liebe zu stellen.«
Rionna musste lächeln. Calma mochte dem einfachen Volk entstammen, aber sie zeigte ihrer Ziehtochter immer wieder, dass es keiner hohen Herkunft bedurfte, um seine eigene Meinung zu haben und diese frei zu äußern.
»Meine gute Calma«, sagte Rionna und strich ihr durch das ergraute Haar. »Wie oft hast du mir Mut zugesprochen, wenn ich verzweifelt war, und das werde ich dir nie vergessen. Aber diesmal, so fürchte ich, habe ich keine andere
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