Land der Mythen 01 - Unter dem Erlmond
verlassen und auszuwandern. Aber wohin? Das kleine Haus, das seine Eltern ihm hinterlassen hatten, war alles, was er besaß. Und auch wenn die Leute ihn nicht mochten, hatten sie bislang immer eine Arbeit für ihn. Und war es nur, um anschließend überall herumzuerzählen, wie wenig er tauge. Dabei tröstete er sich stets mit der Hoffnung, dass sie sein wahres Wesen irgendwann erkennen und ihn weniger ungerecht behandeln würden.
Es stimmte ja, er war anders.
Schon früh hatte er es bemerkt, denn während seine Eltern ihn von Herzen geliebt hatten, war ihm bereits als Kind nicht verborgen geblieben, dass ihn die Menschen aus dem Dorf mieden. Dabei wünschte er sich nichts sehnlicher, als in ihre Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Er hatte stets gehofft, dass sich dieser Wunsch irgendwann erfüllen würde, wenn er ihren Spott und ihre üblen Nachreden nur geduldig genug ertrug.
Und endlich schien sein Wunsch in Erfüllung zu gehen…
Unvermittelt tauchte der ehrwürdige Magistrat Belmus Grindl vor seiner Hütte auf und begehrte Einlass, was noch nie zuvor geschehen war. Natürlich war Leffel ganz aufgeregt. Er bat den Magistrat in sein bescheidenes Heim, wo es – zugegebenermaßen – ziemlich unordentlich war. Aufräumen und Ordnung halten war nicht Leffels Sache, und eine Frau des Hauses, die sich um alles kümmerte, gab es nicht. Er bot dem hohen Besuch ein Bier an, aber Grindl lehnte ab. Stattdessen eröffnete er dem Gilg ohne große Vorrede, weshalb er gekommen war.
»Im Dorf«, sagte der Magistrat, »hat es eine Versammlung gegeben. Man ist in meinem Haus zusammengekommen und hat wegen des frühen Wintereinbruchs beraten.«
»So?«, fragte Leffel – dass es für die Jahreszeit ungewöhnlich kalt war, war auch ihm schon aufgefallen. Aber was gab es da zu beraten? »Habt Ihr neuerdings Einfluss auf das Wetter?«
»Depp!«, antwortete ihm der Grindl barsch. »Es geht um die Zeichen, die gesichtet wurden. Unheil steht bevor, merkst du es nicht? Unsere schöne Heimat ist in Gefahr.«
Leffel staunte nicht schlecht. Dass Allagáin Gefahr drohte, hatte er tatsächlich nicht bemerkt, und von irgendwelchen Zeichen wusste er auch nichts. Zwar plagten ihn seit einiger Zeit wilde Albträume, in denen es vor dunklen und grausigen Gestalten nur so wimmelte, aber Leffel führte sie eher auf den Genuss von angewärmtem Dunkelbier zurück, das er als Schlaftrunk einzunehmen pflegte…
»In der Tat«, bekräftigte Grindl mit ernster Miene, »Unheil steht bevor, Gilg. Der frühe Frost droht unsere Ernte zu vernichten. Und in den Bergen wurden grässliche Kreaturen gesichtet. Sogar ein Feuerreiter soll gesehen worden sein.«
»Ein Feuerreiter?«, fragte Leffel entsetzt. Er kannte sie aus Erzählungen, die garstigen Knochenmänner auf ihren brennenden Mähren, die Angst und Schrecken verbreiteten und als Boten von Tod und Unheil galten. Gesehen hatte er glücklicherweise noch nie einen…
»Als Magistrat dieses Dorfes«, fuhr Grindl fort, »bin ich zu dem Schluss gekommen, dass etwas unternommen werden muss. Jemand von uns muss nach Iónador gehen und die hohen Herren der Stadt um Hilfe bitten. Unser Dorf braucht ihren Schutz, nicht nur vor Wind und Wetter, sondern auch vor der Gefahr, die uns aus den Bergen droht. Und in meiner Weisheit habe ich entschieden, dass du dieser Jemand sein wirst, der nach Iónador geht.«
»I-ich? Aber…«
»Versuch nicht, dich aus der Verantwortung zu stehlen, Gilg. Du bist ein Teil der Dorfgemeinschaft; und hast deiner Pflicht nachzukommen wie jeder andere auch. In deinem Fall wird sie darin bestehen, dass du dich nach Iónador begibst.«
Und noch ehe Leffel diese Worte richtig verdaut hatte, drückte ihm der Magistrat einen Sack aus Rupfen in die Hand, der fest verschnürt war und von dem erbärmlicher Gestank ausging.
»Was ist das?«, fragte Leffel verblüfft.
»Das brauchst du nicht zu wissen. Es ist dir verboten, in den Sack zu schauen. Aber wenn einer der hohen Herren in der Goldenen Stadt an deinen Worten zweifeln sollte, dann öffne ihn, und man wird dir glauben. Dunkle Mächte wirken dort draußen, Gilg. Unsere Hoffnungen ruhen auf dir.«
Leffel schaute den Magistrat mit großen Augen an. So sehr ihn der Gedanke, seine Heimat zu verlassen, auf einmal ängstigte, noch größer war sein Wunsch, endlich von allen anerkannt zu werden. Wie hatte Grindl gleich gesagt? Jemand von uns. Auch wenn sie ihn beschimpften und verspotteten, hatten sie ihn also endlich als einen der
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