Land der Mythen 01 - Unter dem Erlmond
Nachricht an Barand von Falkenstein…
»Du weißt, was das ist?«, rief er kreischend.
Rionna nickte. Zu leugnen hatte keinen Zweck, dazu war der Inhalt des Schreibens zu eindeutig und ihre Handschrift zu leicht zu erkennen. Zudem war sie in ihrem Schockzustand nicht mehr in der Lage, eine Ausrede vorzubringen…
»An Barand von Falkenstein, Marschall von Iónador«, begann Klaigon vorzulesen, wobei er boshaft seine Stimme verstelle, um wie Rionna zu klingen. »Ehrenwerter Barand, ich weiß, dass wir in der Vergangenheit nicht immer einer Meinung waren und dass wir mitunter verschiedene Ziele verfolgen. Dennoch bitte ich Euch, zu vergessen, was gewesen ist, zugunsten der Goldenen Stadt und des Landes, das unser aller Heimat ist und dem unsere Loyalität und unsere Liebe gehört… – Die Worte sind hübsch gewählt, Nichte, das muss ich dir lassen«, unterbrach Klaigon seinen Vortrag spöttisch. »So viel Gemeinsinn hätte ich dir nicht zugetraut.«
Er lachte, als er sah, wie sie den Blick senkte, Tränen in den Augen. »Der überwiegende Teil des Briefes«, fuhr er höhnisch fort, »ist geistloses Geschwätz, wie es nur der kindliche Geist einer Frau formulieren kann. Aber diese Stelle hier gefällt mir besonders: Aufgrund meiner zuvor geschilderten Beobachtungen bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass Klaigon, mein Onkel und Fürstregent von Iónador, ein falsches Spiel treibt. Während er vor Volk und Rat den besorgten Landesvater mimt, hat er in Wahrheit ein Bündnis mit Mächten geschlossen, die den Untergang Iónadors anstreben. Welchem Zweck in diesem Zusammenhang der Krieg gegen das Waldvolk dienen mag, durchschaue ich nicht, aber ich weiß, dass Iónador Gefahr droht und dass seine Soldaten in der Goldenen Stadt dringender gebraucht werden als im Tal des Allair. Deshalb, mein guter Barand, ersuche ich Euch dringend, mit diesem Wissen, in dessen Besitz Ihr nun seid, Eure Loyalität, zu der Ihr Klaigon verpflichtet seid, gegen die abzuwägen, die Ihr Iónador schuldet. Ich weiß, es ist viel, was ich von Euch verlange, aber in dieser Stunde geht es um nicht mehr und nicht weniger als das Überleben unseres Volkes. – Unterzeichnet ist der Wisch mit R.«, beendete Klaigon den Vortrag, dabei wieder in seine eigene Tonlage verfallend. »Du hast nicht zufällig eine Vorstellung, wer dies sein könnte?«
Rionna hielt den Blick gesenkt. Klaigon kannte die Antwort, der Inhalt des Behälters war der grausige Beweis.
»Du willst schweigen?«, stichelte ihr Onkel. »Du begehst Hochverrat an deinem Land und deinem Regenten, und alles, was dir dazu einfällt, ist zu schweigen? Du enttäuschst mich, Nichte. Von Karrols Tochter hätte ich mehr erwartet!«
Seine letzten Worte ließen die Prinzessin zusammenzucken. »Nimm seinen Namen nicht in den Mund!«, sagte sie leise und blickte auf. Tiefe Abscheu sprach aus ihrem Blick. »Nicht du.«
»Warum nicht? Denkst du, ich wäre seiner nicht würdig?«
»Diese Frage hast du dir bereits selbst beantwortet, Onkel«, sagte Rionna und deutete auf den Behälter.
»Du gibst mir die Schuld am Tod deiner Zofe?« Klaigon hob die Brauen.
»Wem sonst?«
»Ich sagte es dir schon – nur deiner Aufsässigkeit hat die arme Calma zu verdanken, was ihr zugestoßen ist. Indem du sie hierzu angestachelt hast« – er schwenkte das besudelte Pergament – »hast du ihr Todesurteil unterzeichnet.«
Rionna wankte unter den Worten ihres Onkels wie unter Hieben. Tränen rannen ihr über die Wangen, während sich ihr der Magen umdrehen wollte. Aber mit jener Selbstdisziplin, die zunächst ihr Vater und später auch Calma sie gelehrt hatten, gelang es ihr, Haltung zu wahren.
»Du hast recht, Onkel«, gestand sie leise. »Indem ich Calma beauftragte, den Brief zu Barand zu bringen, habe ich sie bewusst einer großen Gefahr ausgesetzt. Mit diesem Wissen – und dieser Schuld – werde ich leben müssen.«
Klaigon lachte spöttisch.
»Du jedoch«, fuhr Rionna unbeirrt fort, »hast verraten, was du schützen solltest – eine ungleich schwerere Schuld.«
»Geschwätz!«, brach es aus Klaigon hervor, und Zornesröte schoss ihm ins Gesicht. »Ich höre deinen Vater sprechen, seinen einfältigen Stolz und seine erbärmliche Naivität!«
»Mein Vater war ein großer Fürstregent – und ein größerer Mann, als du es jemals sein wirst.«
»Schweig!«, brüllte Klaigon sie an. »Ich und kein anderer bin Fürstregent von Iónador, und ich bin mächtiger als all meine
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