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Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten

Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten

Titel: Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilona Andrews
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morgen kreiste und sie sich fragte, wer wohl noch sterben würde.
    Ohne dass sie es mitbekommen hätte, war das Abendessen fertig geworden. Die Familie hatte sich im Haupthaus versammelt. Ob jemand in einem der Nebengebäude wohnte oder weiter weg im Sumpf lebte, alle kamen sie am Abend vor dem Kampf zum Essen. Sämtliche Stühle waren besetzt. Um Platz zu schaffen, mussten die Kinder in eine kleinere Nebenküche geschickt werden und dort essen.
    Schließlich saß sie auf dem Platz ihres Vaters am Kopfende der Tafel. Sie lauschte dem Plappern vertrauter Stimmen, betrachtete bekannte Gesichter, beobachtete, wie Streitereien sich in Frotzeleien verwandelten, und wusste plötzlich mit absoluter Sicherheit, dass ein paar dieser Stühle morgen leer sein würden. Einschätzungen und Kalkulationen darüber, welche das sein mochten, ließen sie innerlich immer kälter werden, bis sie fröstelte, als sei in ihrer Magengrube unversehens ein Klumpen Eis entstanden. Schließlich hielt Cerise es nicht länger aus und schlich sich hinaus.
    Sie benötigte Platz und ein bisschen Ruhe. Sie ging den Balkon entlang bis zur Tür zu ihrem Lieblingsversteck.
    Schritte folgten ihr. Vielleicht William … Sie drehte sich um.
    Tante Murid war hinter ihr.
    Na klar. William schlich herum wie ein Fuchs. Sie hatte ihn kaum zu Gesicht bekommen. Zuerst hatte Murid ihn entführt, dann Richard, dann war sie ausgeritten und auf eine Kiefer geklettert, um einen besseren Blick auf Sene zu haben. Beim Abendessen hatte William zusammen mit Gaston in einer Ecke gesessen. Der Junge war mit den geschorenen Haaren kaum zu erkennen gewesen. Was, zum Teufel, dachte sich Urow dabei? Gaston gehörte zur Familie. Was geschehen war, war geschehen, aber es fühlte sich immer noch mies an.
    Cerise blieb stehen, Tante Murid ebenfalls. Cerise sah der Haltung der Alten an, dass sie zögerte, und straffte sich. Und jetzt?
    »Dein Onkel Hugh ist ein guter Mann«, sagte Tante Murid leise.
    Na, damit hatte sie nicht gerechnet. Tante Murid sprach nie über ihren jüngeren Bruder, und schon gar nicht, seit er sich vor zwölf Jahren ins Broken aufgemacht hatte. Seitdem stattete er dem Haus alle paar Jahre einen ein- oder zweiwöchigen Besuch ab und verschwand anschließend wieder. Als Cerise ihn wegen der Dokumente aufsuchte, hatte er noch fast genauso ausgesehen wie in ihrer Erinnerung: tadellos erhalten, groß, muskulös. Sein Haar hatte eine seltsame Salz-und-Pfeffer-Schattierung, doch davon abgesehen war er so was wie eine männliche Ausgabe von Tante Murid. Doch während Tante Murid streng war, kam Onkel Hugh sanft und freundlich daher.
    »Ich war bloß eine Stunde oder so bei ihm«, gestand Cerise. »Damit ich die Papiere für Großvaters Haus bekomme. Aber er sah gut aus.«
    »Davon bin ich überzeugt. Komm, gehen wir ein Stück.«
    Sie spazierten über den Balkon.
    »Hugh war als Kind schwierig«, sagte Tante Murid. »Manches verstand er einfach nicht. Unsere Eltern und ich, wir haben alles unternommen, um auf ihn aufzupassen, aber sein Verstand funktionierte anders. Man musste ihm alles haarklein buchstabieren. Ganz einfache Sachen. Hugh hatte Hunde und andere Tiere immer lieber als Menschen. Weil sie schlichter seien, meinte er.«
    Cerise nickte. Worauf wollte sie hinaus?
    »Er war nicht böse«, fuhr Murid fort. »Sondern nett. Nur auf seine Art seltsam und sehr gewalttätig.«
    »Gewalttätig? Onkel Hugh?« Cerise versuchte sich vorzustellen, wie dieser ruhige Mann aus der Haut fuhr, aber es gelang ihr nicht.
    Nun nickte Tante Murid. »Manchmal war er beleidigt, und man wusste nicht mal, warum. Und wenn er einmal zu kämpfen anfing, hörte er so schnell nicht wieder damit auf. Wenn keiner dazwischengegangen wäre, hätte er einen glatt umgebracht.« Sie blieb stehen und lehnte sich gegen das Geländer. »Hugh war anders als andere Menschen. Er kam schon anders zur Welt, man konnte nichts daran ändern. So was liegt bei mir in der Familie, von väterlicher Seite. Ich hab’s nicht, mein Vater hatte es auch nicht, unser Großvater aber schon.«
    Also war Onkel Hugh verrückt und seine Verrücktheit erblich. Cerise lehnte sich neben Tante Murid ans Geländer. Er war ihr nie verrückt vorgekommen, andererseits kannte sie ihn kaum. Sie konnte sich nur auf Kindheitserinnerungen stützen.
    Murid schluckte. »Ich möchte, dass du etwas verstehst: Für seine Freunde hätte sich Hugh in jeden Kugelhagel geworfen. Und wenn er liebte, liebte er bedingungslos, von ganzem

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