Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
den dichten, schwarzen Brauenbögen, und seine Iriden leuchteten matt silbern, wenn sie das Licht einfingen.
Der Junge benötigte noch einen heilsamen Schock. Einen Beweis, dass seine Familie mit ihm fertig war. Einen geordneten Übergang. William zog ein Messer aus der Scheide. »Abschneiden.«
Gaston wölbte die Brauen.
»Schneid die Haare ab.«
Gaston sah erst ihn an, dann das Messer, schließlich nahm er mit zusammengebissenen Zähnen die Klinge. Er packte eine Haarsträhne und säbelte mit dem Messer daran herum. Die schwarzen Strähnen fielen zu Boden.
Lark ging in die Hocke und hob sie auf. »Es ist nicht gut, die Haare hier draußen zu lassen«, sagte sie leise. »Damit könnte dich einer verfluchen. Ich verbrenne sie für dich.«
»Danke.« Gaston griff sich noch eine Handvoll Haare und schnitt sie ab.
Da öffnete Murid den Mund.
Jetzt kommt’s . William straffte sich.
»Es ist fast Essenszeit.«
Er nickte.
»Es wäre gut, wenn wir wüssten, was sich in der Küche tut«, sagte sie. »Wenn’s Fisch gibt, müssen wir zurück ins Haus. Fisch braucht nicht lange. Wenn’s Schweinefleisch gibt, haben wir noch eine halbe Stunde Zeit.«
»Ich kann fragen gehen«, bot sich Gaston an.
William prüfte den Wind. »Es gibt Hühnchen.«
Murid richtete ihre ausdruckslosen dunklen Augen auf ihn. »Sind Sie sicher?«
»Hühnchen mit Reis«, gab er zurück. »Und Kreuzkümmel.«
»Gut zu wissen«, sagte Murid. »Dann haben wir ja noch Zeit.«
William überkam das seltsame Gefühl, dass soeben etwas Bedeutsames geschehen war, allerdings hatte er keine Ahnung, was. Hinter ihm schnitt sich Gaston die nächste Handvoll seiner Mähne ab und übergab sie Lark. William lud eine neue Armbrust und schoss. Früher oder später würde er schon noch dahinterkommen.
Lagar schloss die Augen. Aber es nützte nichts – Peva war immer noch da. Selbst in der Dunkelheit seines Verstandes.
»Sieh dir deinen Bruder an«, flüsterte die Stimme seiner Mutter wie über den Boden knisternde Schlangenhaut. »Du bist schuld an seinem Tod. Du hattest nicht genug Grips, um auf deinen Bruder aufzupassen.«
Er öffnete langsam die Augen und sah Pevas Leichnam blau und nackt auf dem Waschtisch liegen. Über dem Tisch hing eine einzelne Lampe, deren greller Schein von einem Kegelschirm gebündelt wurde. Das Licht hielt die Gesichter zweier Frauen fest, verwandelte sie in bleiche, käsige Masken. Er sah zu, wie sie dicke Tücher in Eimer mit Duftwasser tunkten und den Schlamm von Pevas Gliedern rieben. Das Schmutzwasser sickerte von seiner Haut in die Ablaufrinne des Waschtischs.
Peva war tot. Er würde sich nie wieder erheben, nie wieder sprechen. Der Tod besaß eine furchtbare Endgültigkeit, der Tod war das absolute, totale Ende. Man konnte nichts daran ändern. Nichts dagegen unternehmen.
Lagar legte den Kopf in den Nacken und holte tief Luft. Sie hatten sich ihr ganzes Leben lang gemeinsam abgestrampelt und sich nach oben gekämpft. Und wofür? Um so zu enden. Auf diesem Tisch.
Morgen würde Cerise ihn holen kommen. Und morgen Abend würde er oder sie auf diesem Tisch liegen. Einfach so. Das war’s nicht, was er wollte. In seinen Träumen, wenn er allein war und niemand ihn beobachtete, war es nicht das, was er sich gewünscht hatte.
»Warum zerbrichst du dir darüber den Kopf?« Lagars Stimme stockte, und er rang sich die Worte ab, krächzend und bemüht.
Kaitlin starrte ihn aus dem Lichtkegel an, ein verhutzeltes, hässliches, in ihren Schal gewickeltes Ding. Seine Mutter. Eher eine alte, giftige Kröte, dachte Lagar.
»Warum zerbrichst du dir darüber den Kopf?«, wiederholte er. »Er ist tot. Seelenlos. Peva gibt’s nicht mehr. Nur noch diese … Hülle. In die Kloake damit. Ihm wird’s jetzt nichts mehr ausmachen.«
Sie erwiderte nichts, presste die Lippen aufeinander. Abscheu überkam ihn. Abrupt drehte sich Lagar um, ging aus dem Raum und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
Cerise tappte auf die Veranda, schloss die Tür hinter sich und sperrte damit den Lärm hektischer Betriebsamkeit in der Küche ein. Müde vom Pläneschmieden und der Wahl der Waffen war sie vorher hinuntergekommen, um vielleicht etwas zu kochen. Am Herd, inmitten des Betriebs in der Küche, fühlte sie sich meistens getröstet – mit dem Duft der Gewürze, dem Geschmack der Speisen, dem Klatsch und Tratsch des Moors lauschend. Doch heute war sie beim Kochen wie benommen, hörte ihren Tanten und Cousinen zu, während ihr Geist um
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