Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
heute so weit sein sollte, und keiner war so dumm, sich ihr in den Weg zu stellen.
Sie nahmen die Wegbiegung. Alles wäre viel einfacher, wenn Großvaters Haus irgendwo an einer Hauptstraße gelegen hätte. Dann hätten sie das Haus mit einem Truck rammen, eine Stinkbombe reinwerfen, einfach abwarten und jeden abknallen können, der anschließend die Nase herausstreckte. Aber nein, das Herrenhaus thronte mitten im Sumpf. Kein Truck würde die schmalen, halb abgesoffenen Pfade dorthin bewältigen, was bedeutete, dass sie das Haus belagern mussten. Die Chancen wären auch dann ungünstig verteilt, wenn sie es nur mit den Sheeriles zu tun hätten. Aber mit den Sheeriles und der Hand … Wer konnte wissen, mit welchen kranken Monstern die Hand aufwarten würde?
Wie man es auch drehte und wendete, irgendwie mussten sie ihre Stinkbombe in das Haus bekommen. Sie mussten die Sheeriles mit möglichst geringen Verlusten aus dem Haus locken, oder sie riskierten, alle Hinweise zu vernichten, die das Herrenhaus bereithalten mochte.
Seit der Entführung ihrer Eltern waren sechzehn Tage vergangen. Cerise blickte starr geradeaus. Jetzt vor versammelter Mannschaft die Nerven zu verlieren wäre nicht gut. Sechzehn Tage, seit die Hand ihre Mom und ihren Dad verschleppt, und fast auf den Tag genau achtzig Jahre, seit die Fehde zwischen ihrer Familie und den Sheeriles ihren Anfang genommen hatte. Was für ein Scheißtag.
Plötzlich sirrte ein Bolzen an ihrer Schulter vorbei, schlug vor ihr in einen Baum ein und durchbohrte ein Eichhörnchen.
William sprengte vor und schnitt den kleinen, pelzigen Leib entzwei. Sofort quoll ein wimmelndes Bündel Tentakeln heraus und fiel mit einem feuchten Klatschen in den Dreck. Cerise kannte diese Tentakeln. Von der Fledermaus, die der Nekromant der Hand kontrolliert hatte.
»Ein Deader?«, fragte sie.
William nickte. »Die Hand können Sie für heute vergessen.«
»Wieso?«, fragte Erian aus dem Hintergrund.
William sah ihn an. »Wenn Spiders Leute den Sheeriles helfen würden, bräuchte er keinen Kundschafter, der alles im Auge behält. Offenbar hat er die Sheeriles aufgegeben, will aber trotzdem unterrichtet sein, wie der Kampf steht.«
Das hieß, dass Lagar und Arig auf sich allein gestellt waren. Also nur die beiden Brüder und was sie sonst noch an Mietlingen aufzuweisen hatten. Cerise hob die Augen zum Himmel. »Danke.«
»Den Nekromanten kann ich erledigen«, sagte William.
»Wie viele Männer brauchen Sie?«
Er grinste und ließ weiße Zähne aufblitzen: die Miene eine eines Raubtiers. »Keinen.«
»Dann sehen wir uns beim Haus. Waidmanns Heil.«
William sprang aus dem Sattel und verschwand im Unterholz.
Cerise wendete ihr Pferd. »Die Sheeriles sind allein. Los, holen wir sie aus dem verfluchten Haus.«
Ein rauer Chorus antwortete ihr. Kummer flog sie an, doch sie drückte ihn weg, ehe er sich auf ihrem Gesicht abzeichnen konnte.
William hangelte sich auf einen Ast am Rand der Lichtung und beobachtete die Umgebung. Seine Stiefelsohlen waren glitschig vom Blut des Scoutmasters, sodass er sich beim Klettern eine Sekunde mehr Zeit nehmen musste.
Das Haus thronte auf einer sanften Anhöhe. Die Sheeriles hatten sich offenbar einen Rasenmäher beschafft, denn das Gras rings ums Haus war frisch gemäht. Ein fünfzig Meter breiter Streifen felsigen Grunds, gesprenkelt mit gerodetem Unkraut, trennte das Gebäude von den Bäumen. Die Mars säumten die Baumgrenze in einer ausgefransten Linie und behielten das Haus im Auge.
Er sah ebenfalls hin. Ein zweistöckiges, baufällig wirkendes Gebäude jener Sorte, die man im Broken sehr häufig fand. Alles blätterte ab, gab nach oder faulte vor sich hin, abgesehen von den Eisengittern vor den Fenstern, die brandneu wirkten und deren Zwischenräume vor Gewehren strotzten. Die Bruchbude glich einer verdammten Festung. Wenn es nach ihm ginge, würde er Feuer legen und den Feind einen nach dem anderen beim Herausspringen ausschalten.
An der Baumgrenze wurde Richard auf ihn aufmerksam und berührte Cerise an der Schulter. Sie drehte sich um und blickte in seine Richtung. William hob das Haupt des Scoutmasters an den Haaren hoch und schwenkte es für sie. Der Nekromant der Hand war mit einer hässlichen Grimasse gestorben. Es war womöglich keine so tolle Idee, den Kopf mitzunehmen, aber wie sonst hätte er ihr beweisen sollen, dass er den Kerl tatsächlich getötet hatte?
Cerise reckte den Daumen. Ha !
Er klemmte den Kopf in die Astgabel und
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