Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
ihn. Aber das allein reichte nicht, weil er Ärger verhieß. Tante Murid hatte recht – wenn William liebte, liebte er bedingungslos, doch wenn irgendetwas seine Eifersucht oder seinen Zorn erregte, würde er nicht mehr aufzuhalten sein. Mit ihm zu leben wäre niemals eintönig. Aber auch nicht gerade einfach.
Sie musste sich entscheiden. Ja oder Nein. Sie musste seine Liebe akzeptieren oder loslassen.
Aber das war alles nur fruchtlose Spekulation, dachte sie. Morgen früh würden sie die Sheeriles angreifen, und niemand konnte ihr garantieren, dass sie diese Auseinandersetzung lebend überstehen würde.
William stürmte auf den Balkon hinaus. An ihrer Wand hing das Bild eines anderen Mannes.
Er schwang sich aufs Geländer, kauerte dort und starrte in den Sumpf. Er brauchte einen Kampf. Ein langes, erschöpfendes Handgemenge.
»Was machen Sie denn da auf dem Geländer, Kind?«
Er fuhr herum.
Großmutter Az stand lächelnd neben ihm. »Es tut nicht gut, zu lange aufs Moor zu starren. Es könnte nämlich zurückstarren.« Sie tätschelte seine Hand mit ihren winzigen, runzligen Fingern. »Kommen Sie von dem Geländer runter. Los.«
Nette alte Damen anzufahren war nicht seine Art, trotz seiner kaum zu zähmenden Wut sprang also William vom Geländer.
»Gut so«, beschied sie ihn. »Kommen Sie, helfen Sie einer alten Frau in einen Sessel.«
Er folgte ihr um die Hausecke, wo der Balkon breiter war und drei dem Moor zugekehrte Korbsessel standen. William rückte Großmutter Az einen Sessel zurecht, und sie nahm Platz. »Was für ein wohlerzogenes Kind Sie sind. Setzen Sie sich zu mir.«
William nahm Platz. Alles an der alten Frau wirkte besänftigend, dennoch traute er ihr ebenso wenig wie dem Rest der Familie. Sie wusste ganz sicher, was er war, behielt es aber für sich. Blieb die Frage, warum.
Großmutter Az griff nach einem Korbtischchen an der Seite, nahm ein altes, in Leder gebundenes Fotoalbum und klappte es auf. »Schauen Sie, hier.«
Ein großer Mann neben einer jungen Frau. Der Mann war dunkelhaarig und schlank, die Frau sah Cerise ähnlich, nur mit strengeren Gesichtszügen.
»Mein Gatte und ich. Henri war ein guter Mann. Ich habe ihn geliebt.« Ihre Augen sprühten Funken. »Mein Vater mochte ihn nicht. Er war ein großer Schwertkämpfer. Auf die Alte Weise.«
»Wie Cerise?«
»Wie Cerise. Kennen Sie die Alte Weise, William?«
»Nein.« Je mehr er herausfand, desto besser.
»Ich erkläre es Ihnen. Früher war der Neue Kontinent des Weird dicht bevölkert. Damals entstand ein großes Reich.«
Er hatte davon gehört. Im Broken hatten die Europäer beide Amerikas besiedelt und die eingeborenen Stämme massakriert. Im Weird verlief die Geschichte annähernd andersherum: Dort gründeten die Tlatoken mithilfe der Magie der Wälder und des Dschungels ein Großreich und plünderten jahrelang den Kontinent im Osten aus, bis man dort eine Waffe erfand, die die ganze Welt zerstören konnte und der erwartungsgemäß zuerst die Tlatoken zum Opfer fielen. Und als die Ostler endlich genug Mumm aufbrachten, den Ozean zu überqueren, und an Land gingen, fanden sie den Nordkontinent verwaist und stießen auf eine riesige Mauer, die die südliche Landmasse abschirmte.
»Sie nannten ihr Reich das Imperium des Sonnendrachen«, fuhr Großmutter Az fort. »Sie waren große Krieger, mit einer langen Tradition und großer Begabung für Zauberei. Aber die Magie brachte ihnen den Untergang. Sie provozierten ihre Vernichtung und mussten fliehen. Einige flohen hierher, ins Edge, und blieben, um die kommenden Jahrhunderte in der Obhut der Sümpfe zu verbringen. Dort liegen unsere Wurzeln. Wir halten ihre Weise des Schwertkampfs und der Magie lebendig.«
»So wie Cerise?«
Die alte Frau nickte und lächelte heiter. »Der Weg der blitzenden Klinge. Eine sehr alte Kunst. Sehr schwer zu erlernen.« Sie nahm einen kurzen Brieföffner von einem schmalen Beistelltisch und hielt ihn senkrecht in die Höhe. Sofort fuhr ein grellweißer Lichtstrahl über die Klinge.
Hölle und Teufel.
Großmutter Az grinste. »Was dachten Sie denn, von wem sie das hat?«
»Von ihrem Vater.«
»So redet nur ein Mann.«
Die alte Frau kippte die Klinge, und der Blitz tanzte über ihre Finger. »Sie war mir eine gute Schülerin. Die Kunst erfordert reichlich Übung und Disziplin. Man muss schon als Kind dazu bestimmt werden. So wie Cerise. Man muss sich ihr verschreiben und üben, üben, üben. Stundenlang. Jeden Tag. Aber wer derart hart
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