Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
irgendwas unternommen hätten. Ich habe unseren Vater sterben sehen und erinnere mich noch genau daran, an den Schuss, das Blut, seinen Blick, an alles! Wisst ihr, was Gustave auf der Beerdigung zu mir gesagt hat? Er sagte: ›Du wirst deine Rache bekommen.‹ Darauf habe ich gewartet. Jahrelang. Aber er hat einen Scheißdreck darauf gegeben, oh, nein, er war zufrieden, wenn er nur in seinem Haus, dem Haus unseres Vaters, hocken und sein verzogenes Blag von Tochter sich um alles kümmern lassen konnte. Er wäre nur immer fetter und zufriedener geworden, während unser Vater unter der Erde verfaulte. Jedes Jahr bin ich zu ihm, und jedes Jahr hat er wieder gesagt: ›Es ist noch nicht so weit, Erian. Wir können uns jetzt keine Fehde leisten.‹ Aber das hätten wir nie gekonnt, also habe ich es verdammt noch mal getan. Habe den Sheeriles einen Vorteil verschafft, ihnen Gustave auf dem Präsentierteller serviert, denn wenn er hier geblieben wäre, hätte die Fehde niemals geendet. Und jetzt sind die Sheeriles tot. Unser Vater guckt von oben zu und ist glücklich, Richard. Hörst du? Er ist glücklich!«
Richards Gesicht wurde kreidebleich. »Ich muss dich jetzt töten«, sagte er sehr ruhig. »Gib mir mal jemand ein Schwert.«
Cerise stand auf. »Onkel Hugh, Mikita, bringt Erian raus. Sperrt ihn in den Nordbau. Und passt auf, dass er sich nichts antun kann.«
Erian bleckte die Zähne. Hugh verpasste ihm einen Schlag auf den Hinterkopf. Erian verdrehte die Augen und plumpste in Mikitas Arme. Dann trugen sie ihn hinaus.
Cerise wandte sich William zu.
»Wenn ihr um das Journal feilscht, werdet ihr sterben«, sagte er. »Und wenn ihr euch mit Spider anlegt, auch. Lasst es bleiben.«
»Ich habe keine Wahl«, entgegnete sie. »Ich kann nicht mit der Gewissheit leben, dass ich Tausende vor dem Tod hätte bewahren können, aber nichts unternommen habe.«
Cerise biss die Zähne zusammen. Ihr Herz hämmerte in der Brust. Sie schmeckte Bitterkeit. Erian. Ausgerechnet Erian.
Ihre Beine hatten sich in nasse Baumwolle verwandelt. Ihre Brust zog sich zusammen. Am liebsten hätte sie sich vorgebeugt und sich um den heißen Schmerzknoten in ihrer Magengrube gekrümmt, aber ihre komplette Familie war hier, beobachtete sie und wartete gespannt, was sie als Nächstes sagen würde, also riss sie sich zusammen.
William stand mit blassem Gesicht allein mitten im Raum. Sie blickte ihm in die Augen und sah alles: Schmerz, Trauer, Wut, Angst und Resignation. Er glaubte, sie würde ihn verlassen. Und wieso auch nicht? Jeder andere in seinem Leben hatte ihn verlassen.
»Also bist du ein Spion des Spiegels?«, fragte sie leise.
»Ja.« Seine Stimme klang tief und rau.
Sie seufzte. »Das hättest du mal lieber früher erwähnt.«
Das kam erst mit Verzögerung bei ihm an. Bernstein floss über seine Augen. Die schockierende Erkenntnis erfasste sein Gesicht. Es dauerte nur einen Moment, aber die Erleichterung in seinen Augen war dermaßen offensichtlich, dass sie Wut überkam. Wut über die Ungeheuer, die ihn verbogen hatten, Wut auf Erian, Wut auf die Hand … Ihre Hände bebten, sie presste sie fest zusammen.
»Ich liebe dich«, sagte sie ihm. »Und als ich dich gebeten habe, bei mir zu bleiben, habe ich das ernst gemeint.«
»Aber er ist ein Gestaltwandler«, sagte jemand im Hintergrund.
Cerise wandte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Aber es gab sich keiner zu erkennen. »In den letzten drei Jahren habe ich das Geld der Familie verwaltet. Ich kenne alle eure schmutzigen Geheimnisse. Also überlegt es euch gut, ehe ihr den ersten Stein auf den Mann werft, den ich liebe, weil ich nämlich zurückwerfe, und bestimmt nicht daneben.«
Schweigen.
»Also gut«, sagte sie. »Schön, dass wir das geklärt haben. Warum unterhaltet ihr euch jetzt nicht mal miteinander?« Damit drehte sie sich um und marschierte auf den Balkon hinaus, und weiter, um die Ecke, aus ihrem Blickfeld.
Draußen umgab sie die Hitze des Sumpfes, und sie ließ Luft ab. Tränen verschleierten ihren Blick und liefen über ihre Wangen. Sie wollte sie wegwischen, doch sie liefen einfach weiter und weiter, sie konnte sie unmöglich aufhalten.
Da bog William um die Ecke und packte sie.
Sie drückte den Kopf an seine Brust und kniff die Augen zusammen, um den Tränenfluss zu stoppen.
Er zog sie fest an sich.
»Ich kann nicht glauben, dass du mir nichts gesagt hast«, hauchte sie. »Ich habe dich draußen im Sumpf geradeheraus gefragt, und du hast
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