Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
konzentrierte sich auf die Klinge. Die Tür war fast acht Zentimeter dick. Da musste sie schon mehr als einmal ansetzen.
Cerise blitzte und schlug mit dem Messer nach dem Türgriff. Im Metall erschien eine acht Zentimeter lange Furche.
Schnitt . Sie brach durch das Metall.
Schnitt.
Schnitt .
Schweiß trat ihr auf die Stirn. Es ging nicht schnell genug.
Schnitt.
Schnitt.
Fertig. Ein gezackter, sichelförmiger Riss trennte das Schloss vom Rest der Tür. Cerise rammte dagegen und prallte zurück. Sie saß immer noch fest.
Da erschien William auf der Treppe, in der Hand eine Rolle hellen, in Papier eingewickelten Kaugummi. Er riss einen Batzen davon ab und pappte ihn gegen das obere Scharnier, riss noch ein Stück ab und klebte es an das untere Scharnier, dann schälte er mit einer einzigen fließenden Bewegung das Papier, packte ihre Hand und rannte die Treppe hinauf, wo er sie in die überfüllte Küche zog, weg von der Tür.
»Sprengstoff!«, bellte Richard.
Die Familie drückte sich gegen die Wand.
Eine Sekunde verging.
Noch eine.
Dann gab es einen Knall, leise, wie von einem Feuerwerkskörper.
William ließ sie los und stürmte abermals die Treppe hinunter. Richard hinterher. Cerise heftete sich an ihre Fersen.
»Mikita, weg von der Tür!«, rief Richard.
Erian tauchte mit einem Kanister Neutralisationslösung wieder auf. Cerise nahm eine Seite des Kanisters, er packte die andere.
Wie ein Mann warfen sich Richard und William gegen die Tür.
Sie quietschte, kippte, wie ein Zahn, der gleich ausfallen würde, und fiel krachend um. Cerise und Erian stemmten den Kanister und schütteten einen glitzernden Sturzbach durch die Öffnung. Als der Wasserfall sank, sahen sie Mikita, der, nass bis auf die Knochen, seine Mutter wie ein Kind in den Armen hielt. Er machte einen Schritt und brach zusammen. Sie sprangen vor und fingen seinen großen Körper auf, bevor er den Boden berührte.
16
Spider hob die Augenbrauen. Keine Explosion.
»Sie hatten recht«, sagte er. »Sie sind verschwunden und haben Laverns Leiche mitgenommen.«
Verschwunden im Rattennest. Hinter den Wehren, wo man ihnen nichts tun konnte. Er verschränkte seine Finger ineinander und überlegte. Cerise, Cerise, Cerise . Was für eine Meisterin mit dem Schwert. Ein Hieb pro Körper, und der Blitz, der über die Klinge glitt – eine fast vergessene Gabe. Aber wer war bei ihr? Wer war die zweite Person im Boot?
»Was jetzt?« Ruhs gelbe Augen beobachteten ihn.
»Wir könnten zum Stützpunkt zurück.« Spider lächelte. »Aber nicht in Anbetracht der Blutspur im Wasser. In dem Boot befanden sich drei Personen. Soviel wir wissen, war eine Cerise und eine ihr Vetter, der Thoas. Die Frage ist, wer war die dritte Person? Der Thoas hat geblutet und war vergiftet. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Kupfervergiftung, durch die er bewusstlos wurde. Cerise hätte ihn alleine nicht transportieren können. Also hat ihr Passagier ihr geholfen, der vermutlich ein Mann war, ein starker Mann. Ich will wissen, wer das ist. Sind Sie nicht auch neugierig, Ruh? Die haben so eine hübsche kleine Hütte. Anscheinend sehr gastfreundlich. Ich denke, ich werde denen mal einen Besuch abstatten.«
Clara zog an der Wolldecke und legte Urows Füße bloß. Mit zugedeckten Füßen konnte er nicht schlafen und wälzte sich gewöhnlich so lange herum, bis seine krallenbewehrten Zehen unter der Decke hervorlugten. Allerdings machte ihre Geste momentan keinen Sinn. Urow war so tief in seinem von Kräutern angeregten Schlaf versunken, dass er wohl nicht einmal vom Gebrüll eines Evaurg neben seinem Ohr aufgewacht wäre, geschweige denn von der Wolle an seinen Füßen.
Sie strich ihm das Haar aus der Stirn und spürte die Kälte seiner Gesichtshaut. Das Fieber war zurückgegangen, und seine Atmung hatte sich zu einem regelmäßigen Rhythmus verlangsamt, noch immer ein wenig zu flach, aber sich langsam verstetigend. Ihre Finger zeichneten die tiefen Furchen in seinen Augenwinkeln nach. Die Lachfältchen, die er Claras Falten nannte. Er behauptete, dass sie für die meisten verantwortlich war. Vor ihrem Kennenlernen hatte er nicht genug zu lachen gehabt.
Sie fühlte Tränen aufsteigen und hielt sie zurück. Fast hätte sie ihn verloren. Einfach so, er wäre weg gewesen, von ihrer Seite gerissen.
Einen Atemzug lang schloss sie die Augen und wagte es, sich vorzustellen, wie es ohne ihn sein würde. Sein Lächeln, seine Stimme, seine Kraft, alles weg. Sofort schnürte
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