Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
es ihr die Kehle zu. Sie wollte schlucken und konnte es nicht, so sehr kämpfte sie mit dem Kloß im Hals, der ihr endlich als ein leises Seufzen aus dem Munde fuhr. Nichts wäre mehr, wie es einmal war. Götter, wie überleben Menschen das bloß ?
Sie öffnete die Augen. Er atmete noch.
Mein Urow.
Sie blinzelte die Tränen aus den Augen und sah weg, um nicht weinen zu müssen, betrachtete die Zimmerwände, an denen Bündel getrockneter Kräuter hingen und kleine Regale aus Holz standen. Die Regale waren mit allerlei Schnickschnack angefüllt: eine dunkelrot bemalte Keramikkuh, eine winzige Teekanne, deren lindgrüner Untergrund mit hellroten Sternchen und rosafarbenen Sumpfblüten geschmückt war, eine kleine Puppe in einem fröhlichen gelben und blauen Kleid. Sie hatte sich immer ein Mädchen gewünscht, schon seit der Geburt von Ry vor nunmehr neunzehn Jahren, also hatte sie diese Puppe gekauft, in der Hoffnung, sie eines Tages ihrer Tochter geben zu können. Ihr Blick wanderte weiter zur Kinderkrippe. Ihr Wunsch war endlich erfüllt worden. Es hatte drei Jungs gedauert, doch jetzt hatte sie ihr kleines Mädchen. Alles schien in bester Ordnung zu sein …
Warum? Warum musste die Fehde ausgerechnet jetzt wieder aufflammen? Vielleicht weil sie glücklich waren?
Unter der Decke regten sich Urows Finger, und sie beugte sich vor, ängstlich darauf bedacht, ihn nicht aufzuwecken. Seine Lippen bewegten sich ein wenig, aber die Augen blieben geschlossen, sein Atem ging gleichmäßig. Er schlief.
Sie konnte so lange dasitzen, bis er erwachte, und zusehen, wie seine Brust sich hob und senkte. Einen Moment war die Aussicht fast zu verlockend, aber sie hatte drei Jungs satt zu kriegen und das Abendessen würde sich nicht von alleine zubereiten. Ein letztes Mal ließ Clara ihre Finger über Urows Wange gleiten und stand auf.
Auf dem Weg in die Küche blieb sie vor dem Regal stehen und nahm die Puppe heraus. Die aufgemalten blauen Augen blickten sie an. Eine einzelne Linie zauberte ein glückliches Lächeln auf das Puppengesicht. Bei ihrer Niederkunft vor fünf Monaten hatte sie beschlossen, so lange zu warten, bis Sydney groß genug war, um mit der Puppe zu spielen, ehe sie sie ihr gab.
Aber das Leben war zu kurz und endete so plötzlich. Wenn man heute nicht nutzte, was man besaß, konnte es einem schon morgen entrissen werden.
Clara zog das Puppenröckchen glatt und trat an die Krippe. Sydney lag gekrümmt wie ein Würmchen, hatte sich bloßgestrampelt, der dunkle Flaum Babyhaar stand ihr steil vom Kopf ab. Clara drückte ihrer Tochter die Puppe in die winzige Armbeuge und deckte sie zu.
In der Küche heizte sie den Herd an und sah nach der Fischbrühe, die sie heute Morgen angesetzt hatte. Vor gut zwei Stunden hatte sie ein aufgeschlagenes Ei und zerbröselte Eierschale in den Topf gerührt und das Ganze, um das Fett abzusondern, unmittelbar unter dem Siedepunkt köcheln lassen und die Brühe so geklärt.
Da muss noch Pfeffer dran. Sie schaute in das Glasfass, keiner mehr da. Sie konnte Gaston Wasserklar holen schicken. Das war zwar kein richtiger Pfeffer, tat es zur Not aber auch.
Andererseits musste einer von den Jungs Wache halten. Und da Mart und Ry fort waren, blieb nur Gaston als Wächter übrig. So lautete Urows Regel, die sie buchstabengetreu befolgen würde. Und jetzt erst recht. Die Suppe würde auch ohne Pfeffer bestehen. Sobald sie die Rolpies sicher verwahrt hatten, konnte sie immer noch einen der beiden Ältesten zum Pflücken schicken.
Man könnte meinen, wir sind im Krieg . Verärgert ließ sie das Sieb ins Spülbecken fallen, fachte das Feuer an, um die Brühe warm zu halten, und griff in der Kühlbox nach dem Breitmaulfisch, den die Jungs gestern Abend gefangen hatten.
Das Komische war, dass sie Gustave Mar mochte. Aus Genevieve hatte sie sich nie viel gemacht – zu schlau, zu … nicht direkt zickig, aber zu … zu irgendwas. Als wäre sie schon als was Besseres auf die Welt gekommen, mit besseren Manieren und einem hübscheren Gesicht, und sie rechtfertigte sich nicht mal dafür, als sei das alles von Natur aus so vorgesehen. Genevieve gab ihr das Gefühl, eine dumme Sumpfratte zu sein. Die Frau hatte ihr nie etwas bedeutet, und ihre Töchter waren auch nicht viel besser.
Mit einem Hackmesser hackte sie dem Fisch den Kopf ab und filetierte ihn mit kräftigen, präzisen Schnitten. Aber Gustave war immer freundlich, das musste man ihm lassen. Trotzdem war er verschwunden, und nichts würde
Weitere Kostenlose Bücher